Im Land des Roten Ahorns
entschied sie. Als Mann nicht und als Diener auch nicht ...
Als hätte er ihre Beobachtung bemerkt, blickte er schließlich auf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.
Dann räusperte sich Jaqueline verlegen. »Lassen Sie uns den Kuchen genießen, bevor uns der Appetit ganz vergeht. Und kein Wort mehr über Fahrkrog! Der wird uns noch genug Schwierigkeiten machen.«
Damit nahm sie einen Bissen auf die Gabel und erlaubte sich einen Moment lang, in dem süßen Geschmack zu versinken und alles um sich herum zu vergessen.
3
Nachdem Jaqueline die ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht hatte, erhob sie sich in den frühen Morgenstunden. Die Glocke des Michels hatte noch nicht geläutet, es musste also noch vor fünf Uhr sein.
Sie verrichtete ihre Morgentoilette und schlüpfte in frische Wäsche und in ihr Trauerkleid.
Aus seit Monaten eingeschliffener Gewohnheit eilte sie danach zum Zimmer ihres Vaters, um nach ihm zu sehen. Kurz vor der Tür fiel ihr aber wieder ein, dass er nicht mehr da war, worauf ihr Tränen in die Augen schossen.
Als sie sich wieder gefasst hatte, ging sie nach unten in die Küche. Dort traf sie auf Christoph, der bereits Feuer im Herd gemacht hatte. Seit sie der Köchin gekündigt hatte, betätigte Christoph sich manchmal auch als Koch. Besonders in der letzten Zeit, als Jaqueline sich verstärkt um ihren Vater kümmern musste, hatte er Gelegenheit gehabt, seine Kochkünste zu üben.
»Oh, guten Morgen, Fräulein Halstenbek«, sagte er und wischte sich die Hände an der grünen Schürze ab, die er sich über die Dienstkleidung gebunden hatte. »Sie sind schon auf?«
Seine Augenringe verrieten Jaqueline, dass auch er nicht viel Schlaf gefunden hatte.
»Die Gewohnheit«, antwortete sie und schniefte, die Tränen nur mühsam zurückhaltend.
Der Diener nickte verständnisvoll. »Sie wollten zum Zimmer Ihres Vaters, nicht wahr?«
Jaqueline fühlte sich ertappt.
»Das ist mir heute Morgen genauso gegangen. Ist doch merkwürdig, wie lange der Mensch braucht, um den Tod zu begreifen.« Kurz blickte er sie an, presste dann die Lippen aufeinander und begab sich wieder an die Arbeit. »Der Kaffee ist gleich fertig. Wenn Sie möchten, schneide ich Ihnen ein Stück von dem Kuchen von gestern ab.«
»Danke, Christoph.« Jaqueline ließ sich auf einem der Küchenstühle nieder.
Eine lähmende Schwäche bemächtigte sich plötzlich ihrer Glieder. Wie soll ich das nur alles schaffen?, fragte sie sich bang. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie das geheimnisvolle Päckchen von der Bank abholen musste.
Was es wohl ist? Aufregung erfasste sie und verdrängte den Kummer für eine Weile.
Frische Morgenluft schlug Jaqueline entgegen, als sie das Haus verließ. Sie kuschelte sich tiefer in den Mantel und blickte zum Haus gegenüber, wo der Diener Sand auf den Gehsteig streute.
»Guten Morgen!«, rief Jaqueline ihm zu, aber er würdigte sie keines Blickes.
Stur setzte er die Arbeit fort, als hätte er nichts gehört.
Jaqueline fragte sich bitter, ob seine Herrschaft ihm verboten hatte, mit ihr zu reden. Wenn Menschen ins Elend geraten, gelten sie wohl nichts mehr, sinnierte sie empört. Doch diesen Gedanken verfolgte sie nicht weiter. Ich werde ohnehin nicht mehr lange hier sein, tröstete sie sich. Selbst wenn das Schmuckstück wirklich wertvoll ist. Sie umklammerte das Schreiben, das sie in der Manteltasche trug, und schritt entschlossen voran.
Obwohl es in der vergangenen Nacht keinen Neuschnee gegeben hatte, war es an einigen Stellen ziemlich glatt. Nachdem sie beinahe ausgerutscht wäre, suchte sie immer wieder Halt an Gartenzäunen und Laternenpfosten und erreichte schließlich ohne Zwischenfall die Promenade.
Von dort aus war es nur noch ein kleines Stück bis zur Commerzbank, die erst vor fünf Jahren in Hamburg eröffnet hatte.
Das blank polierte Messingschild leuchtete in der Morgensonne. Das Eis zeichnete bizarre Muster auf die Fenster. Obwohl die Treppe frisch mit Sand bestreut war, setzte Jaqueline nur vorsichtig einen Fuß darauf.
»Keine Bange, junges Fräulein, wenn Sie fallen, fang ich Sie auf!«
Der Ruf des Mannes, der hinter ihr ebenfalls in die Bank wollte, ließ sie herumwirbeln.
Obwohl seine Stimme der von Fahrkrog ein wenig ähnelte, lächelte sie ein freundlich aussehender Mittfünfziger in einem pelzverbrämten schwarzen Mantel an.
Jaqueline erwiderte das Lächeln zaghaft und betrat die Schalterhalle.
Um diese Uhrzeit war es hier noch angenehm leer. Das
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