Im Land des Roten Ahorns
mehrere Fenster in der unteren Etage zerbrochen waren. Wie die Zähne eines Untiers klafften spitze Glasreste in den Fensterrahmen. Scherben glitzerten auf dem Gehsteig.
Jaqueline rang nach Atem. Sie fühlte sich plötzlich, als drücke ihr jemand die Kehle zu. Angst, Entsetzen und Wut erfassten sie wie eine Flutwelle, und ihre Knie wurden weich.
Habe ich das Fahrkrog zu verdanken? Hat er mich deshalb ziehen lassen?
»Was ist hier los?«, rief sie.
Augenblicklich verstummte das Gemurmel. Die Leute drehten sich zu ihr um. Jaqueline fühlte sich von Blicken regelrecht durchbohrt.
Aber niemand antwortete. Einige blickten verschämt zu Boden, andere wandten sich ab.
»Ein paar Männer haben Steine auf die Scheiben geworfen«, meldete sich schließlich ein älterer Mann zu Wort, in dem Jaqueline ihren Nachbarn Volkmar Espen erkannte.
Der ehemalige Kapitän trug auch jetzt seine Meerschaumpfeife im Mundwinkel und wirkte vollkommen ruhig.
Obwohl er nicht der Schuldige war, verstärkte das Jaquelines Wut noch. »Was waren das für Männer?«, fuhr sie ihn an. »Und warum ist niemandem eingefallen, die Polizei zu verständigen?«
»Was sollen das schon für Leute gewesen sein? Taugenichtse, nichts weiter! Die waren weg, bevor jemand reagieren konnte.«
Ihr habt es doch gar nicht versucht!, dachte Jaqueline bitter. Was, wenn Christoph einen Stein oder Scherben abbekommen hat?, durchfuhr es sie plötzlich. Sie stürzte ins Haus, ohne ihren Nachbarn noch eines Blickes zu würdigen.
»Christoph?« Ihr Ruf verhallte ohne Antwort. »Christoph, wo sind Sie?«
Das Schlimmste vermutend, schaute sie sich um und entdeckte tatsächlich eine Blutspur auf dem Boden. Dicke Tropfen, die teilweise auf dem Parkett verschmiert waren, führten in Richtung Küche. Jaqueline rannte los.
»Christoph?«, rief sie ängstlich. »Sagen Sie doch etwas!«
»Ich bin hier, Fräulein Jaqueline«, tönte es schließlich gepresst aus der Küche.
Als Jaqueline durch die Tür stürmte, sah sie ihren Diener am Esstisch sitzen. Er hatte ein Tuch um eine Hand gewickelt; auf der Tischplatte und den Küchenfliesen hatten sich ebenfalls Blutflecke gebildet.
»Was ist passiert?«
Ein schmerzvolles Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. »Nichts Schlimmes, es sind nur ein paar Kratzer.«
Jaqueline zog sorgenvoll die Augenbrauen zusammen. »Danach sieht es aber nicht aus. Zeigen Sie mal!«
Der Diener zuckte zusammen, als sie das Tuch abnahm. Wie ein klaffendes Maul wirkte die Wunde, die sogleich wieder Blut zu spucken begann. Jaqueline spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, doch sie zwang sich, nicht zurückzuweichen.
»Wie konnte das geschehen?«, fragte sie, während sie gegen das Unwohlsein anatmete.
»Als die Steine durch die Fenster flogen, bin ich auf die Straße gerannt, um die Werfer zu verscheuchen. Da haben sie auch nach mir geworfen. Ich musste mich ducken, habe dabei das Gleichgewicht verloren und in eine Scherbe gefasst.«
»Wir sollten Dr. Sauerkamp holen. Die Wunde muss genäht werden.«
Christoph zog die Hand zurück. »Ich glaube, ich komme auch so zurecht ...«
»Nein, das tun Sie nicht«, gab Jaqueline entschlossen zurück. »Oder wollen Sie riskieren, Ihre Hand durch Wundbrand zu verlieren? Ich werde gleich in die Praxis gehen.«
Christophs unverletzte Hand schloss sich blitzschnell um ihr Handgelenk. »Sie dürfen nicht allein gehen. Es wäre zu gefährlich. Die Kerle könnten auf Sie lauern.«
Nach kurzer Überlegung schüttelte Jaqueline den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wenn sie mir etwas antun wollten, hätten sie vorhin schon die Gelegenheit dazu gehabt. Außerdem ...«
Zögernd fragte sie sich, ob sie Christoph von ihrer Begegnung erzählen sollte.
»Außerdem bin ich vorhin Fahrkrog begegnet. Ich habe mich schon gewundert, warum er so friedlich geblieben ist. Wahrscheinlich wusste er, dass seine Leute ganze Arbeit leisten würden. Er will mich einschüchtern. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihm das auch gelingt.«
Christoph schaute Jaqueline unentschlossen an. Ein Anflug von Bewunderung lag in seinem Blick. »Sie sollten trotzdem nicht -«
Jaqueline schnitt ihm mit einer entschlossenen Handbewegung das Wort ab. »Ich will nichts mehr hören! Ich werde den Arzt holen. Wenn es Sie beruhigt, nehme ich eine der Pistolen meines Vaters mit.«
»Können Sie denn damit umgehen?« Christoph klang nicht beruhigt, aber offenbar hatte er begriffen, dass er seine Herrin nicht von ihrem Entschluss abbringen
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