Im Land des Roten Ahorns
Wohnstube zustrebte, aus der ihr wohlige Wärme entgegenschlug, begann sie zu lesen.
Mein liebes Flämmchen,
bitte verzeih mir, dass ich diesen Weg gewählt habe, aber angesichts der Situation, in der ich mich befinde, habe ich keine andere Wahl. Dieser Brief wurde Dir von einem Freund zugestellt, dessen Identität Dir wahrscheinlich nie bekannt werden wird. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtiger ist das, was ich Dir mitteilen will, wenn ich die Augen für immer geschlossen habe.
Wie Du weißt, ist von unserem Wohlstand nicht viel geblieben, doch Du sollst nicht denken, dass ich Dich ganz allein gelassen habe mit der Not, in die ich uns gebracht habe.
Du sollst wissen, dass ich ein Schmuckstück Deiner Mutter beiseitegelegt habe, nachdem ich von meiner schlechten Prognose gehört habe. Ich habe es vor langer Zeit in Indien erworben. Es ist sehr wertvoll. Ich hoffe, es hilft Dir ein wenig aus der Misere. Behalte oder verpfände es, ganz wie Du willst.
Allerdings knüpfe ich zwei Bedingungen daran. Erstens: Erzähle niemandem von dem Schmuckstück! Und zweitens: Solltest Du gezwungen sein, die Brosche zu versetzen, dann verwende den Erlös nicht für meine Beerdigung oder die Tilgung meiner Schulden. Dafür wird Martin Petersen andere Mittel finden.
Du erhältst das Schmuckstück gegen Vorlage des Schreibens, das diesem Brief beiliegt. Wende Dich einfach an unsere Hausbank, sie wird es Dir aushändigen.
Nun bleibt mir nur noch eines zu sagen: Verzweifle nicht, mein Kind, und sei stark! Du bist eine Halstenbek, und ich bin sicher, dass Du meinen Stursinn und den Mut Deiner Mutter geerbt hast. Vielleicht findest Du eines Tages auch einen Mann, der Dich liebt und den Du ebenso lieben kannst, wie ich Deine Mutter geliebt habe. Möge euch beiden eine bessere Zukunft beschieden sein als Elena und mir!
Wenn es eine Möglichkeit gibt, werde ich Dir vom Himmel aus beistehen und Dir helfen, Dein Glück zu finden,
Dein Dich liebender Vater
Jaqueline ließ den Brief sinken und presste die freie Hand auf den Mund. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf Handschuh und Kleid. Wieder brannte die Trauer in ihrer Brust, und ihr Herz stolperte. Erstickt schluchzend warf sie sich auf die Chaiselongue. Das Sitzmöbel knarrte leise, als sie am ganzen Körper zitterte und hemmungslos weinte. Während die Wärme des Kaminfeuers ihre eisigen Hände auftaute, gab Jaqueline sich ihrer Verzweiflung hin.
Ach, Vater!, dachte sie. Warum hast du nur zugelassen, dass deine Trauer um Mutter dich zerstört? Warum konntest du nicht bei mir bleiben?
Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, legte sie Mantel und Handschuhe ab und las den Brief erneut. Sie betrachtete das Blatt, auf das ihr Vater hingewiesen hatte. Die dort niedergeschriebenen Zeilen forderten die Bank auf, der Überbringerin den Inhalt eines bestimmten Schließfachs zu überreichen.
Ein Schmuckstück von Mutter, dachte Jaqueline. Welches mag es wohl sein?
Seit es finanziell bergab mit ihnen ging, hatte ihr Vater immer wieder Schmuck seiner Frau versetzt. An einige Stücke konnte sich Jaqueline noch gut erinnern. Und sie erinnerte sich auch an den Zorn, den sie empfunden hatte, als sie verkauft wurden. Nicht, weil sie den Schmuck für sich beanspruchte, sondern weil sie das Gefühl gehabt hatte, einen Teil des Andenkens ihrer Mutter zu verlieren, den sie gern bewahrt hätte.
An ein Schmuckstück aus Indien konnte sie sich allerdings nicht erinnern.
Hat er es Mutter geschenkt, bevor ich geboren wurde?
Wann ihr Vater nach Indien gereist war, wusste sie auch nicht. In den Geschichten, die er ihr erzählt hatte, war Indien nur selten vorgekommen.
Ein erster Impuls wollte sie dazu bewegen, sich gleich auf den Weg zur Bank zu machen. Doch dann sah sie, dass es bereits dunkelte, und angesichts der Ereignisse dieses Tages hielt sie es für angebracht, den Besuch zu vertagen.
Vielleicht lauert Fahrkrog nur darauf, mich allein anzutreffen.
»Ah, Fräulein Halstenbek, Sie sind zurück!«
Als sie aufsah, stand Christoph im Türrahmen. Der Brief und ihre Gedanken hatten sie dermaßen eingenommen, dass sie sein Klopfen offenbar nicht bemerkt hatte.
»Haben Sie den Brief gefunden?«
»Ja, danke. Wer hat ihn abgegeben?«
»Ich habe den Überbringer nicht gesehen. Er hat den Umschlag einfach unter der Haustür hindurchgeschoben.«
Die Lippen zusammenpressend, betrachtete Jaqueline die Schrift auf dem Umschlag genauer. Wem mag Vater das Schreiben anvertraut haben?,
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