Im Leben wird dir nichts geschenkt.
qualvolle Jahre wurden, schwappen wie eine Woge über mich hinweg, und sowie sich mein Sehvermögen verschlechtert, wird es allmählich dunkel um mich. Ich kann immer noch die Wände des Badezimmers erkennen, in dem ich auf dem Boden liege. Ich bin in der Villa am Luganer See, in der ich zwölf Jahre gewohnt habe, doch es fühlt sich nicht real an.
Der Raum ist groß, doch irgendwie fühlt er sich jetzt sogar noch größer an, alles scheint zurückzuweichen, wirkt verschwommen. Es ist mir egal, das alles zu verlieren, obwohl es mir einmal so viel bedeutet hat. Wir haben es selbst geplant, gebaut und eingerichtet. Wir haben unsere Liebe und einen ganzen Haufen Geld und Schweiß in unser Traumhaus gesteckt. Ich versuche, mich zu bewegen, falle aber sofort wieder auf den Boden zurück, ohne den Schmerz wahrzunehmen. Dieses Badezimmer ist, wie alles andere in der Villa, luftig, licht, luxuriös und stilvoll eingerichtet. Es wirkte alles so elegant, so perfekt. Das Haus sollte unsere Zuflucht, unser Rückzug sein. Jetzt flimmert es und ist kaum zu erkennen, wie ein schlecht eingestelltes Fernsehbild.
Die Sonne strömt durchs Fenster herein, und auch wenn ich die Wärme nicht spüren kann, fühle ich mich gut. Ich habe mich sozusagen auf Watte gebettet, und so macht es nichts. Ich fühle mich sicher. Von nebenan dringt Radiomusik herüber, sie klingt verzerrt und gedämpft wie unter Wasser. Als Kind bin ich in der Wanne mit dem Kopf untergetaucht und habe gespürt, wie das warme Wasser wohlig über mich hinwegspült, während mir die undeutlichen Geräusche aus der Ferne ein behagliches Gefühl gaben.
Ich erkenne die Melodie. Celine Dion singt »A New Day Has Come«. Ich bin ihr schon oft begegnet, und ich denke an ihre Schönheit und diese unverwechselbare Stimme. Aus meiner eigenen musikalischen Laufbahn ist nichts Rechtes geworden, und jetzt ist es zu spät. Es ist seltsam, wie klar ich denken kann. Ich bin ein Vogel, der nicht mehr mit den Flügeln flattert, sondern sich im Gleitflug langsam sinken lässt. Mein Geruchssinn ist noch intakt. Der Geruch von vielen Zigaretten an diesem Tag, der säuerliche Nachgeschmack einer Flasche Jack Daniel’s, die leer neben dem Waschbecken auf dem Boden liegt. Mein Atem stinkt.
Wie lange liege ich jetzt schon so da? An der Sonne kann ich nicht erkennen, ob es noch Morgen oder schon Nachmittag ist. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir haben. Wahrscheinlich ist es Schulzeit, vermute ich, weil ich keine Kinder höre. Wo ist mein Mann Raoul? Ich weiß es nicht. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Es wird nicht mehr lange dauern.
Zwei Stockwerke weiter unten bereitet die Köchin etwas. Durchs offene Fenster dringen zusammen mit dem Vogelzwitschern die Geräusche des Gärtners herein. Noch schwächer sind die Laute von den Touristenbooten auf dem See zu hören, an den das Grundstück grenzt. Wir wohnen direkt außerhalb eines Dorfs, und ich meine, auch das Läuten der Glocken zu hören. Neben mir auf dem Boden steht das Glas, das ich mit Pillen aus dem Arzneischrank gefüllt habe. Es waren ungefähr fünfundzwanzig. Ich habe sie alle auf einmal geschluckt, fünf sind übrig geblieben. Die letzten sechs oder sieben waren allerdings nicht einfach; ich musste Wasser nehmen, um sie hinunterzuspülen. Es waren starke Schmerztabletten, die mir der Arzt gegen meine Rückenschmerzen verschrieben hatte – mit derselben Wirkung wie Valium.
Ich hatte die Pillen schon lange. Mein linkes Bein ist fünf Zentimeter länger als das rechte. Als junges Mädchen wurde bei mir Skoliose festgestellt, eine seltene Erkrankung, die fünf meiner Rückenwirbel betraf und mein Rückgrat s-förmig verkrümmte. Zwei Jahre lang musste ich ein orthopädisches Korsett tragen. Immer mal wieder wurde es so schlimm, dass ich mich vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte und selbst das Atmen zur Qual wurde. Ich hatte das Gefühl, als lägen in meinem Rücken die Nervenenden frei und jemand zöge daran. Ich hatte diese starken Schmerzmittel für den Fall, dass es richtig schlimm wurde, immer griffbereit, und über die Jahre hatte ich gelernt, die Krankheit selbst zu beherrschen. Jetzt verwende ich dieselben Pillen, um meinem psychischen Schmerz ein Ende zu setzen.
Ich denke daran, wie sich die Erde weiterdreht und das Leben in der schönen Umgebung des Sees weitergeht. Von der Begeisterung, mit der ich dieses Zuhause gestaltet hatte, war nichts mehr geblieben, doch ich blieb, weil ich einen Pakt mit mir
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