Im Leben wird dir nichts geschenkt.
es nur noch ein Sport. Mir war das egal – mich faszinierten nur ihre Ausdauer und ihr Mut. Man stelle sich nur vor, Hunderte Kilometer von allem weg zu sein, was man kennt, und dann den Weg nach Hause zu finden! Für mich, ein oft kränkelndes Kind, war das so romantisch. Wenn die Vögel zurückerwartet wurden, sauste ich auf meinem Rad hinüber und starrte mit Herzklopfen in den Himmel, wenn in der endlosen Weite winzige schwarze Punkte erschienen und schließlich die vertrauten Gestalten der kühnen Kundschafter auf ihrem Heimflug zu erkennen waren. Und sie hatten immer Botschaften dabei. Ich stellte mir vor, wie sie fantastische Geschichten aus fernen Ländern mitbrachten, in denen deine Fahnenstange oder der Zustand deines Rasens nicht das Maß aller Dinge war.
»Wenn sie doch nur reden könnten«, sagte ich dann.
Und ich dachte an die Männer, die sie losschickten, und fragte mich, was sie wohl dachten. Kurz bevor die Vögel in den Himmel entlassen wurden, hörte ich sie mit den Flügeln schlagen, während sie aufgeregte Laute von sich gaben. Wenn sie dann ihre Kreise zogen, um sich auf ihre Reiseroute zu begeben, hätte ich am liebsten geklatscht und wäre in die Luft gesprungen, um ihnen Mut zu machen – aber ich war immer zu schüchtern.
Meine eigenen Versuche, auszubrechen, waren weniger erfolgreich. Dabei fing ich früh an, mit gerade mal drei Jahren. Liselotte war meine beste Freundin; sie stammte aus einer wohlhabenden, gutbürgerlichen Familie – ihr Vater war Zahnarzt. Sie war das Gegenteil von mir – vorsichtig und still, während ich der Lausbub war. Obwohl Liselotte ein Jahr älter war als ich, beschwatzte ich sie, auf unseren Dreirädern einen Ausflug zu machen. »Wir fahren zu meiner Großmutter«, sagte ich zu ihr, und wir machten uns auf die Suche nach dem See.
Ich habe keine Ahnung, wie wir es angestellt haben, doch mir schafften es, und Großmama gab uns Saft und Kuchen. Ich ließ mir jeden Bissen schmecken, auch wenn ich ganz genau wusste, dass ich von meinen Eltern, die bereits unterwegs waren, um uns abzuholen, gewaltigen Ärger bekommen würde. Von meinem Vater gab’s was hinten drauf, doch das trieb mir die Abenteuerlust so schnell nicht aus. Liselotte und ich waren jahrelang befreundet, und ich war immer auf der Suche nach aufregenden Erlebnissen. Nichts liebte ich so sehr, wie mir eine Tasche mit Proviant zu packen und mit meinem treuen Fahrrad ins Blaue zu fahren. Einmal brachten wir es irgendwie fertig, auf eine Autobahn zu geraten. Die Polizei las uns auf, und diesmal gab es eindeutig keinen Kuchen. Ich war immer die Waghalsige. Zur Strafe gab’s was hinter die Löffel und eine Woche Stubenarrest.
Wenn ich allein unterwegs war, radelte ich oft nach Heden, ein schönes, weitläufiges und friedliches Fleckchen Erde. Ich stieg vom Rad, legte mich ins Gras, blickte in die weißen Wolken und hing meinen Träumen nach. Eines Tages würde ein gutaussehender Mann auf seinem Pferd angaloppiert kommen und mich aus allen Widernissen in ein Zauberland entführen. R ø dovre bot ein behütetes Leben, es war nicht schlecht, doch ich fühlte mich dort nie wohl. Irgendetwas an dem Ort tat mir nicht gut.
Es fing damit an, dass ich ständig krank war. Als Baby bekam ich eine von Streptokokken verursachte Blutkrankheit, unter der ich mit etwa zwei Jahren hartnäckig litt. Mir fiel das Haar aus, und ich hatte sehr hohes Fieber. Monatelang kam ich immer wieder ins Krankenhaus, wo die Ärzte herauszufinden versuchten, was mit mir nicht stimmte. Drei Jahre vergingen, und schließlich verschrieben sie mir so hoch dosierte Medikamente, dass ich in eine Spezialklinik für Kinder kam, die auf Grund ihrer schweren Erkrankung kein normales Leben führen konnten. Ich war fünf, hatte jedoch die Größe einer Zweijährigen und war sehr dünn. »Werde ich immer so bleiben?«, fragte ich. Eine ziemlich wichtige Frage für eine Fünfjährige.
Als vierfache Mutter fand ich später heraus, dass Kinder eine erstaunliche Widerstandskraft entwickeln können. Sie überleben oft die schlimmsten Krankheiten, und auch ich erholte mich allmählich. Ich konnte mich sogar kaum noch an die Krankheit erinnern. Für meine Eltern sah die Sache natürlich ganz anders aus; für sie war es unerträglich, ihr Kind so leiden zu sehen. Sie fühlten sich vollkommen hilflos, solange alle ihre Mühen scheiterten. Erst als bei meinem jüngsten Sohn Raoulino im Alter von acht Jahren ein gutartiger Gehirntumor entdeckt wurde,
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