Im Leben wird dir nichts geschenkt.
geschlossen hatte. Ich hatte mir geschworen, nicht wieder die Koffer zu packen, nur weil die Situation schwierig wurde. Ich würde durchhalten und wie meine Eltern in meiner Ehe Ordnung und Verlässlichkeit einkehren lassen. Ich war entschlossen, zusammen mit meinem Mann alt zu werden, egal, was es kostet. Hier würden wir unsere Familie gründen, und anfänglich war ich auch sehr glücklich gewesen, doch nach und nach, in einem schleichenden Prozess, war meine eigene Version vom Paradies zu einem Gefängnis geworden. Alles, was ich einmal geliebt hatte, hasste ich inzwischen.
Einer der ersten, die den Charme von Lugano für sich entdeckt hatten, war Charlie Chaplin. Auch einer meiner Lieblingsschriftsteller, Graham Greene, ist seiner Schönheit erlegen. Der Sänger Robert Palmer lebte und starb hier. Strawinsky und Tschaikowski haben im Schatten der Alpen an seinen Ufern komponiert. Es ist fast zu schön, eine Bilderbuchidylle, der fast jeder verfallen kann.
Unser eigenes Haus hatte einmal einem Baron gehört, der sich in den Zwanzigerjahren in den Casinos ruiniert hatte. Das Gebäude verfiel, bis Raoul und ich uns in das, was davon übrig geblieben war, verliebten und uns an die Arbeit machten. Wir waren an der Grenze zu Italien, wo ich viel mit dem Fernsehen arbeitete. Die Schweiz war bei Leuten mit hohem Einkommen beliebt, da sie sich mit dem Staat auf die Steuer, die sie zahlten, verständigen konnten – und Raoul stammte von hier. Er musste nach Hause zurückkehren, und Lugano erschien uns als ein geeigneter Ort, um unser Leben als Ehepaar zu beginnen. Die Paparazzi kamen nie bis hierher, und ich konnte dem Stress meines pflegeintensiven Lebensstils entfliehen. Hier fühlten wir uns geborgen. Wenn man wollte, konnte man splitternackt herumlaufen. Wir konnten wir selbst sein. Hier konnte ich meinen Traum ausleben, eine gewöhnliche Ehefrau und Mutter mit einer ganz normalen Familie zu sein: Endlich wäre ich wieder Gitte.
Es war mir nicht vergönnt. Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen, die mir zuschrie: Schnapp dir die Kinder und nichts wie weg hier, doch ich wollte mit aller Macht, dass es funktioniert, und verwandte mein ganzes Geld, meine ganze Energie darauf. Jetzt war alles verbraucht, und mir wurde klar, dass mir kein anderer Ausweg blieb.
Ich dachte zuerst, unsere Ehe sei genau das, was ich brauchte, doch jetzt kann ich mich nicht einmal erinnern, wann wir uns das letzte Mal geküsst haben. Seit über zwei Jahren haben wir keinen Sex mehr gehabt. Wir alle haben von Sekten gehört, die ihre Anhänger durch Gehirnwäsche dazu bringen, etwas zu tun, was sie normalerweise nicht tun würden, doch jetzt verstehe ich, was sich da abspielt. Ich ertrage nicht mehr, was aus mir geworden ist, und erkenne mich nicht mehr wieder. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nicht mehr die clevere, starke, unabhängige Gitte. Wo ist sie geblieben? Ich habe nicht mehr die Kraft – ich bin gebrochen. Sag mir einfach, was ich tun soll, und ich tu’s. Ich bin passiv. Ich bewege mich auf einer vom Alkohol angetriebenen Tretmühle – darum kreist jetzt mein ganzes Leben.
Jetzt bin ich mir sicher, was ich will: Ich weiß, dass ich das Richtige tue. Es erscheint mir nicht egoistisch, und ich denke auch nicht an die Kinder und erkenne nicht, dass ich Alkoholikerin geworden bin. Alles erscheint so logisch. Ich habe nicht die Kraft zu planen und zu organisieren, und so wird es keinen Abschiedsbrief geben, keine Anweisungen für die Beerdigungsfeier, keinen Gedanke daran, was mit meinen sterblichen Überresten werden soll, und der heutige Tag ist zum Sterben genauso gut wie jeder andere. Es hätte genauso gut gestern oder morgen sein können. Vielleicht hat es damit zu tun, wie die Sonne heute zu den Fenstern hereinscheint, oder mit dem fernen Hintergrundrauschen, das vom Dorf herüberdringt, oder mit den Geräuschen des Gärtners draußen. Ich kann es wirklich nicht sagen. Ich brauche einfach nur Frieden. Ich möchte ihn riechen, schmecken, fühlen.
Ich hatte daran gedacht, ins Wasser zu gehen, doch der Gedanke an das eiskalte Wasser hatte mich abgeschreckt. Außerdem hatte ich gehört, Ertrinken gehöre zu den schlimmsten Todesarten. Von den Pillen fühle ich mich einfach schläfrig, ein wenig, als ob ich schwebte. Das ist der Frieden, nach dem ich mich sehne. Ich drifte hinüber und wache nie wieder auf.
Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass es noch nicht dazu gekommen ist – ich hätte gedacht, dass es
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