Im Leben wird dir nichts geschenkt.
sehr alte Stadt mit schönen Kirchen, und ich liebte es, mir die Statuen und Gebäude mit ihren charakteristischen Kupferdächern anzusehen. Man blickt hinauf und weiß, dass man an einem besonderen Ort ist. Im Vergleich dazu erschien mir mein Viertel trist und trübe. Wir durften nicht allzu oft alleine weg, und so hatte es einen besonderen Reiz, im Zentrum zu sein – es gab uns das Gefühl, erwachsen zu sein. Wir trugen, was wir an coolen Kleidern zu bieten hatten, und wussten, dass eine Menge andere Teenager auf dem Gr å br ød retorv mit einem Bier ordentlich angeben würden.
Susanne und ich steuerten immer einen großen Baum auf dem Platz an, der bei jungen Liebespaaren populär war. Wir liefen zielstrebig, Arm in Arm hinüber und unterhielten uns angeregt über ein wichtiges Thema: Jungs. Als Erstes würden wir uns in einer Kneipe ein Bier besorgen, und ich hoffte, bei der Gelegenheit einen bestimmten hochgewachsenen jungen Mann mit blauen Augen hinter dem Tresen vorzufinden – Christian. Wenn wir unser Geld zusammenlegten, hatten Susanne und ich genug Geld für ein Bier und zwei Busfahrkarten nach Hause. Es war alles ziemlich albern, doch es bedeutete uns sehr viel.
Wir fühlten uns inmitten der geschäftigen Menschen und des Verkehrs wie am Bauchnabel der Welt. Hier spielte sich das Leben von Kopenhagen ab, hier war immer etwas los. Hier fiel ich nicht weiter auf, niemand lachte über mich, weil ich zu groß oder zu dünn war. Ich konnte mich anziehen, wie ich wollte, ich konnte in der Menge untertauchen. Die Leute hatten hier Besseres zu tun, als stehen zu bleiben und aus reinem Zeitvertreib Gehässigkeiten von sich zu geben. In Rødovre nannten sie mich »Giraffen« – Giraffe, eine linkische, fremdartige, exotische Kreatur, die nirgends hinpasste.
Kopenhagen dagegen hatte alles zu bieten, und wir genossen unsere Ausflüge in vollen Zügen. Man konnte sich nichts Eleganteres, Schöneres vorstellen als diesen Platz. Außer Christian. Ich schenkte ihm ein Lächeln, und als er herüberkam, um uns zu bedienen, schmolz ich dahin und grinste wie ein Idiot. Ich war von meinem halben Bier schnell beschwipst und mochte den Geschmack nicht, doch es half mir, mich älter und selbstsicherer zu fühlen. Bier zu trinken war etwas, das Christian vermutlich gut fand, und jedes Mal, wenn er in meine Richtung sah, schlug mein Herz höher.
Ich machte das Beste aus meiner Freiheit. Es war schon fünf Uhr, und ich musste bis sechs zu Hause sein. Das war die Frist, die mir mein Vater setzte, und er duldete keine Verspätung. Er war unglaublich streng. Ich hatte am Abendbrottisch zu sitzen und zwar gerade. So wie es sich gehört – Dad hatte es meinem Bruder und mir beigebracht, indem er uns beide mit einem Buch auf dem Kopf still sitzen ließ. Er hatte eine etwas altmodische Vorstellung von der Elternrolle, und ich bin sicher, dass er die Vorteile, die mir seine Lektionen als Model brachten, keineswegs beabsichtigte. Während die anderen Mädchen lernten, wie man sich ordentlich auf dem Laufsteg bewegt, war ich bereits bei Lektion zwei. Dads Essensregeln schlossen ein, dass die Ellbogen stets unten waren und wir ähnlich vornehm mit Messer und Gabel umgingen. Das gehörte einfach zu Dad.
Fünf Uhr, und mein Märchen endete, wie gewohnt, so wie bei Aschenputtel. Ich war jung und lebenshungrig und in die Welt verliebt, doch ich wusste, dass ich zu Hause sein musste, wenn ich keinen Zimmerarrest riskieren wollte. So sehr ich Dad liebte, hatte ich auch Angst vor ihm, und ich hätte nie gewagt, mich ihm zu widersetzen. Als es Zeit war, nach Hause zu fahren, verflüchtigten sich die Gespräche über Jungen und die Träume von Christian. Die Party war vorbei.
Susanne wusste, wie es bei uns lief, und wir brachen rechtzeitig auf. So wie immer – bis mich jemand energisch in die Seite stieß. Das war mir noch nie passiert. Ich fuhr herum und wollte sehen, wer sich so rüde benahm und was derjenige von mir wollte.
»Möchten Sie Model werden?«
KAPITEL DREI
DIE BRIEFTAUBE, DIE NICHT ZURÜCKKAM
I ch wurde am 15. Juli 1963 als Tochter von Hanne und Svend Nielsen geboren. Damals bot der dänische Staat frisch Vermählten eine Menge Hilfe an. Wenn sie ein Kind erwarteten, bekamen sie automatisch eine Wohnung angeboten. Unsere Familie bekam ein Zuhause in Rødovre.
Mum hatte eine völlig problemlose Schwangerschaft, doch meine Geburt war für sie eine Qual. Nachdem sie schon Tage darum gekämpft hatte, mich aus eigener Kraft auf
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