Im Leben wird dir nichts geschenkt.
die Welt zu bringen, mussten sie mich am Ende mit der Zange holen. Bei der Geburt war ich nur etwas über 3000 Gramm schwer und fünfzig Zentimeter lang, mit blauen Augen und schwarzen Haaren. Ich war ein lebhaftes Baby, auch wenn damals mit meinem Babyspeck niemand ahnte, dass ich einmal eins neunzig groß werden würde.
Nach einem Jahr zogen wir in ein unscheinbares, zweistöckiges Haus im Stil der damaligen Zeit. Es war rot verklinkert, wie es in Dänemark für den Baustil der Fünfzigerjahre üblich war, und es bestand aus einer langen, schmalen Küche, zwei kleinen Zimmern für uns Kinder, einem Elternschlafzimmer sowie einem L-förmigen Wohnzimmer mit Terrasse. Draußen gab es noch einen kleinen Schuppen.
Als ich nicht lange darauf ein Brüderchen, Jan, bekam, war unsere kleine Familie komplett. Jan und ich standen uns sehr nahe. Uns blieb auch gar nichts anderes übrig – ich hatte nicht viele Freunde, und Dads strenge Regeln bedeuteten, dass wir selten zum Spielen mit anderen Kindern nach draußen durften. Dad hatte ein paar seltsame Ticks. Immer nach der Schule mussten wir im Unterschied zu den anderen Kindern zu Hause sauber machen. Die dänische Gesellschaft stand damals in dem Ruf, das Leben nicht so ernst zu nehmen, doch wer den Haushalt der Nielsens gesehen hätte, wäre nie auf die Idee gekommen.
Jan und ich spielten miteinander Karten oder tollten im Garten und hatten unseren Spaß beim Fußball und anderen Freizeitbeschäftigungen. Wir hatten außerdem einen Cockerspaniel, mit dem wir spazieren gingen, und wir waren viel mit dem Fahrrad unterwegs.
Ich hegte gegenüber meinem kleinen Bruder einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und ließ nicht zu, dass ihm irgendjemand – außer ich selbst – ein Haar krümmte. Jedes Mal, wenn wir Streit hatten, bezog er von seiner großen Schwester Prügel. Ich war schrecklich! Ich wurde leicht wütend auf ihn, aber zugleich waren wir ein Team. In der Schule oder mit anderen Kindern auf der Straße hielten wir zusammen, doch wenn zu Hause einer von uns etwas ausgefressen hatte, gaben wir uns grundsätzlich gegenseitig die Schuld. Es kam nicht selten vor, dass wir unsere Eltern völlig verwirrten und am Ende gar nichts abbekamen – oder wir wurden beide bestraft. Zumindest litten wir dann nicht allein. Damals war ich häufig diejenige, die irgendwelche Dummheiten anzettelte und Jan mit anstiftete, und obwohl wir uns heute nicht mehr so häufig sehen, haben wir immer noch eine starke Bindung. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann in Dänemark und viel auf Reisen, doch wir sind Seelenverwandte, und wenn wir einmal wieder zusammen sind, albern wir miteinander herum, als wären wir noch klein.
Ich hatte mein Zimmer im ersten Stock auf der Gartenseite. Ich war meistens unglücklich, und oft saß ich dort und blickte über die bürgerliche Nachbarschaft. Die Gärten waren sehr gepflegt, und da es in Dänemark fast so viel regnet wie in England, waren sie auch immer grün. Die richtig schicken Häuser hatten einen Fahnenmast mitten im Garten. Seltsam, oder? Wenn man draußen eine Fahnenstange hatte, hielt man sich gesellschaftlich für einen Hauch überlegen – ein typisch dänisches Phänomen! Ich starrte an den Fahnen und den kurz gemähten kleinen Rasenflächen vorbei und brachte meine Kindheit mit Tagträumen herum.
Wir wohnten sieben Kilometer vom Rådhuspladsen entfernt, dem Zen trum von Kopenhagen und dem Platz im Herzen des Geschäftslebens, doch es hätten ebenso gut sieben Lichtjahre sein können. Wir lagen deutlich näher am Damhussoen-See. Das war meine Zuflucht von der Monotonie der Häuser, die aussahen, als stammten sie aus einem Science-Fiction-Albtraum, in dem alle gleich sind. Am See entkam ich unseren strengen Regeln zu Hause und meinem Unglück über mein Äußeres.
Meine Großmutter wohnte in einem Haus direkt am See. Für ein kleines Kind war es ein Traum. So oft ich konnte, schwang ich mich aufs Rad und fuhr so schnell ich konnte zu ihr. Sie wohnte auf der anderen Seite, und so musste ich um den See herumfahren. Auf dem Weg dorthin gab es einen kleinen Vergnügungspark, und ich pausierte immer an einem Vogelhaus, in dem sie Brieftauben hielten. Seit vielen Jahren war es Tradition, die Vögel jede Woche fliegen zu lassen, und mein Dad erklärte uns, dass einige von ihnen aus einer Entfernung von fünfhundert Kilometern nach Hause fanden. Wahrscheinlich hatten sie der Stadt früher einmal für einen wichtigen Zweck gedient, doch jetzt war
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