Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
Die Entscheidung liegt beim Verhandler und hängt davon ab, wie er die Situation und die Person einschätzt.«
»Wenn man ihn betrunken genug gemacht hätte, wäre er vielleicht noch vom Dach gefallen.« Arnies Bemerkung brachte ihm ein paar Lacher ein. Phoebe legte den Kopf schräg und wartete, bis sie wieder verstummt waren.
»Wenn Sie das nächste Mal auf einem Dachvorsprung sitzen, Officer, werde ich daran denken, dass Sie schon von einem Bier betrunken werden, und Ihnen stattdessen eine Cola bringen.«
Jetzt hatte sie die Lacher auf ihrer Seite, doch als sie sah, wie Arnies Gesicht wutrot wurde, sagte sie: »Wie bereits erwähnt, gibt es selbstverständlich bestimmte Grundregeln für Verhandlungen. Trotzdem muss der Verhandler flexibel bleiben und selbst überlegen, was in der jeweiligen Situation angebracht ist.«
»Aber Sie geben mir recht, dass es riskant ist, Alkohol oder Drogen zu verabreichen?«
»Natürlich. Nur, dass ich das Risiko in diesem Fall für äußerst gering hielt. Die Person forderte keinen Alkohol, sondern bat höflich um ein Bier. Indem ich dem Mann das Gewünschte brachte, gab ich ihm das Gefühl, die Situation besser im Griff zu haben. Und jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte sie zu Arnie, bevor er seinen grinsenden Mund wieder aufmachen konnte. Sie machte eine lange Pause, um danach ruhig und gelassen weiterreden zu können. »Die Rettung eines Menschenlebens ist immer das vordringlichste Verhandlungsziel. Alles andere ist nebensächlich. Deshalb habe ich mich in der Situation – und jede Situation ist anders – dafür entschieden, dem Mann allein gegenüberzutreten und ihm ein Bier zu bringen. Einfach, weil ich der festen Überzeugung war, dass ich ihn so leichter zum Aufgeben bewegen kann. Da er noch lebt und es keine Verletzten gab, da er die Waffe nicht benutzte, sondern mir übergab, gehe ich davon aus, dass meine Entscheidung in diesem speziellen Fall richtig war.«
»Sie haben sogar noch einen Mittelsmann hinzugezogen.«
Jetzt lächelte Phoebe zuckersüß. »Officer Meeks, wie ich sehe, scheinen Sie eine ganze Reihe von kritischen Fragen hinsichtlich dieses Falles und meines Umgangs damit zu haben. Das klingt ja fast so, als ob Sie zufriedener wären, wenn die Person gesprungen wäre.«
»Da das Haus, auf dem der Betreffende saß, nur vier Stockwerke hoch war, hätte er sich höchstens ein paar Knochen gebrochen. Außer, er hätte vorher erst Sie und dann sich selbst erschossen.«
»Eine Person mit Selbstmordabsichten nicht ernst zu nehmen ist auch eine interessante Herangehensweise.«
Sie hob lässig die Hand, um sich eine Strähne aus dem Gesicht zu streifen. Wie nebenbei sagte sie: »Ich kannte mal einen Verhandler, der das ganz ähnlich sah. Und zwar bei einem Selbstmordkandidaten, der sich gerade mal in drei, vier Metern Höhe befand und noch dazu unbewaffnet war. Meiner Meinung nach betrachtete er ihn einfach nur als Nervensäge, die ihm seine kostbare Zeit stahl, und das ließ er sich auch anmerken. Der Mann sprang mit dem Kopf voraus und brach sich den Schädel auf dem Bürgersteig. Er war ziemlich tot, Officer Meeks. Und hat hier irgendjemand eine Ahnung, warum diese Nervensäge mit einem Zettel am Zeh geendet ist?«
»Der Verhandler hat’s versaut!«, rief jemand.
»Ganz genau. Der Verhandler hat’s versaut, weil er die Regel Nummer eins missachtet hat, nämlich ein Menschenleben zu retten. Wenn Sie sonst noch Fragen oder Bemerkungen zu diesem Vorfall haben, dürfen Sie sie mir gerne aufschreiben. Aber jetzt müssen wir dringend weitermachen.«
»Ich würde gern noch …«
»Officer.« Phoebe stand kurz davor, die Geduld zu verlieren, was äußerst selten bei ihr vorkam. »Vielleicht haben Sie noch nicht richtig verstanden, wer hier den Unterricht leitet. Das bin nämlich ich. Vielleicht ist Ihnen auch die bestehende Rangordnung unklar. Ich bin Ihre Vorgesetzte.«
»Ich habe vielmehr den Eindruck, Ma’am , dass Sie sich weigern, Ihre fragwürdigen Entscheidungen während einer Krisenintervention zu diskutieren.«
»Und ich habe den Eindruck, mein Junge, dass Sie taub für ein klares Nein sind, vor allem, wenn es von einer Frau kommt, die in der Hierarchie über Ihnen steht, und dass Sie ein sehr festgefahrenes Denken haben und viel zu aggressiv diskutieren. Das alles sind keine guten Eigenschaften bei einem Verhandler. Ich werde das Ihrem Captain gegenüber erwähnen und hoffe, dass man uns bald voneinander erlösen wird. Und jetzt möchte ich,
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