Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
Vom Netzwerk:
Der Mann blieb am Straßenrand stehen und fuchtelte wild mit den Armen, damit er auch ja gesehen und nicht überfahren wurde. Wenn der Lastwagen hielt und alles in Ordnung war, stiegen Mama und ich vorne ein (was zweimal vorkam) oder hinten zu der Ware (was einmal vorkam). Als wir hinten einstiegen, war die Ladefläche voller Matratzen. Ich habe ausgezeichnet geschlafen.
    Als wir den Fluss Arghandab überquerten und nach Kandahar kamen, hatte ich dreitausendvierhundert Sterne gezählt (eine stolze Zahl, wie ich finde). Davon waren mindestens zwanzig groß wie Pfirsichkerne, und ich war sehr müde. Aber nicht nur das: Ich hatte auch die von den Taliban gesprengten Brücken gezählt, die ausgebrannten Autos und die vom Militär zurückgelassenen verkohlten Panzer. Aber lieber wäre ich nach Nawa zurückgekehrt und hätte mit meinen Freunden Buzul-bazi gespielt.
    In Kandahar hörte ich auf, die Sterne zu zählen. Und zwar deshalb, weil ich zum ersten Mal in einer so großen Stadt war und mich die Lichter der Häuser und Straßenlaternen viel zu sehr ablenkten. Ansonsten hätte ich mich aus Müdigkeit verzählt. Die Straßen von Kandahar waren asphaltiert. Es gab Autos, Motorräder, Fahrräder, Läden und viele Lokale, in denen man Chai trinken und von Mann zu Mann reden konnte. Mehr als drei Stockwerke hohe Häuser mit Antennen auf den Dächern und überall Staub, Wind und Staub. Und so viele Leute auf den Gehsteigen, dass unmöglich noch irgendjemand zu Hause sein konnte.
    Nachdem wir ein Stück gegangen waren, blieb der Mann stehen und befahl uns zu warten – er müsse etwas regeln. Er sagte uns weder, wo noch mit wem. Ich setzte mich auf eine Mauer und zählte die vorbeifahrenden Autos (die bunten), während Mama regungslos stehen blieb. Es roch nach Frittiertem. Aus einem Radio plärrten Nachrichten, es hieß, in Bamiyan gäbe es Schießereien, und in einem Haus hätte man zahlreiche Tote gefunden. Ein alter Mann hatte die Hände zum Himmel erhoben und flehte Gott um ein wenig Gnade an. Ich bekam Hunger, bat aber nicht um etwas zu essen. Ich bekam Durst, bat aber nicht um etwas zu trinken.
    Der Mann kehrte mit einem Lächeln zurück, ein anderer Mann war bei ihm. Ihr habt Glück gehabt, sagte er. Das ist Shaukat, er bringt euch mit seinem Lastwagen nach Pakistan.
    Meine Mutter sagte: Salaam, agha Shaukat. Danke.
    Shaukat, der Pakistani, schwieg.
    Und jetzt geht!, sagte der Mann. Bis bald.
    Danke für alles, sagte meine Mutter.
    Aber das habe ich doch gern getan.
    Richte meiner Schwester aus, dass wir eine gute Reise hatten.
    Wird gemacht. Viel Glück, kleiner Enaiat.
    Er umarmte mich und küsste mich auf die Stirn. Ich lächelte ihn an, als wollte ich sagen, na klar, bis bald, mach’s gut. Dann fiel mir auf, dass viel Glück und bis bald nicht besonders gut zusammenpassen: Warum viel Glück, wenn wir uns ohnehin bald wiedersehen würden?
    Der Mann verschwand. Shaukat, der Pakistani, bedeutete uns, ihm zu folgen. Der Lastwagen parkte in einem staubigen Innenhof, der von einem Metallzaun umgeben war. Auf der Ladefläche lagen zig Holzstämme. Als ich sie aus der Nähe betrachtete, sah ich, dass es Laternenmasten waren.
    Warum transportierst du Laternenmasten?
    Shaukat, der Pakistani, schwieg.
    Was es damit auf sich hatte, habe ich erst später erfahren. Nämlich dass Leute wie Shaukat aus Pakistan kommen, um in Afghanistan alles zu stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist, obwohl es dort ohnehin kaum etwas zu holen gibt. Laternenmasten zum Beispiel. Sie kommen mit ihren Lastern, fällen die Masten und bringen sie über die Grenze, um sie zu benutzen oder weiterzuverkaufen. Aber damals interessierte uns nur, dass wir eine gute Mitfahrgelegenheit hatten, ja eine ausgezeichnete sogar, da pakistanische Lastwagen an der Grenze seltener kontrolliert werden.
    Es war eine lange Reise, wie lange, weiß ich nicht mehr. Wir fuhren stundenlang durch die Berge, über Stock und Stein, vorbei an Zelten, Märkten und Staubwolken. Als es bereits dunkel war, stieg Shaukat, der Pakistani, aus, um etwas zu essen. Aber nur er, denn für uns war es besser, im Wagen zu bleiben. Man kann nie wissen, meinte er. Er brachte uns Fleischreste mit, und danach fuhren wir weiter, während der Wind durchs Fenster pfiff. Das Fenster war zwei Fingerbreit heruntergekurbelt, um frische Luft hereinzulassen, aber so wenig Staub wie möglich. Als ich sah, wie diese unendliche Weite an uns vorüberzog, musste ich an meinen Vater denken: Auch er war lange

Weitere Kostenlose Bücher