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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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uns eine Dreiviertelstunde unterhalten. Ich erzählte ihnen alles, wirklich alles. Ich erzählte von Nawa, von meinem Vater und von meiner Mutter, von meiner Reise, von meiner ersten Nacht bei Marco und Danila in Turin. Ich erzählte ihnen von den Albträumen, die mich nachts quälten und aufwühlten – fast so, wie der Wind das Meer zwischen der Türkei und Griechenland aufgewühlt hatte. Ich erzählte ihnen, dass ich in diesen Albträumen stets auf der Flucht war und dabei oft aus dem Bett fiel oder mich aufsetzte, mir die Bettdecke um die Schultern legte, die Tür zum Hof öffnete und im Auto schlief, ohne es überhaupt zu bemerken. Oder dass ich meine Kleider ordentlich zusammenfaltete und mich anschließend in einer Ecke des Badezimmers ausstreckte. Ich erzählte ihnen, dass ich mir immer eine geschützte Ecke suchte, um schlafen zu können. Ich bin – wie heißt das noch? – ein Schlafwandler. Und nachdem ich ihnen all das erzählt hatte, sagte dieser Typ, der Kommissar, dass er trotzdem nicht verstehe, warum ich politisch verfolgt sei. So gefährlich sei es für Afghanen in Afghanistan doch auch wieder nicht – ich hätte genauso gut zu Hause bleiben können.
    Da zog ich die Zeitung hervor, die erst wenige Tage zuvor erschienen war. Ich zeigte auf einen Artikel.
    Die Schlagzeile lautete: Afghanistan: Taliban-Kind schneidet einem Spion die Kehle durch. In dem Artikel ging es um einen Jungen, der dabei gefilmt worden war, wie er einem Gefangenen die Kehle durchschnitt und dabei Allah Akbar! rief. Der Film diente den Taliban zu Propagandazwecken und wurde im pakistanischen Grenzgebiet gezeigt. In dem Video sah man einen Gefangenen, einen Afghanen, der sich vor einer Gruppe Fanatiker, von denen viele noch nicht einmal volljährig waren, schuldig bekannte. Daraufhin ergriff der Henker das Wort, ein junger Bursche in einer Tarnjacke, die ihm mehrere Nummern zu groß war. Das ist ein amerikanischer Spion, sagte der mit einem Messer bewaffnete Bursche und hielt es in die Kamera. Solche Menschen verdienen den Tod. Dann hob jemand den Bart des Verurteilten, während die anderen Allah Akbar! Allah Akbar! , schrien, der Junge zustach und dem Mann die Kehle durchschnitt.
    Ich zeigte auf den Artikel und sagte: Ich hätte dieser Junge sein können.
    Dass ich als politisch Verfolgter anerkannt wurde, habe ich erst einige Tage später erfahren.
    In meinem dritten Jahr auf der Fachoberschule versuchte ich, Kontakt zu meiner Mutter aufzunehmen. Ich hätte sie schon früher ausfindig machen können, aber erst, als ich meine Aufenthaltserlaubnis hatte und mich sicher fühlte, erlaubte ich es mir, wieder an meinen Bruder und meine Schwester zu denken. Lange hatte ich sie vollkommen aus meinem Gedächtnis gelöscht. Nicht weil ich kaltherzig gewesen wäre: Aber wer sich um andere kümmern will, muss erst einmal selbst mit sich im Reinen sein. Wie kann man lieben, wenn man sein eigenes Leben nicht liebt? Als ich begriff, dass es mir in Italien wirklich gut ging, rief ich einen meiner afghanischen Freunde in Qom an, der noch einen Vater in Quetta hatte. Ihn fragte ich, ob sein Vater vielleicht versuchen könnte, Kontakt zu meiner Familie in Afghanistan aufzunehmen.
    Wenn es deinem Vater gelingt, meine Mutter, meinen Bruder und meine Schwester ausfindig zu machen, sagte ich, bezahle ich ihm den Aufwand natürlich und gebe ihm genügend Geld, dass er alle nach Quetta holen kann. Ich erklärte ihm auch, wie er sie finden könne und wo wir wohnten. Mein Freund im Iran sagte: Das ist zu kompliziert, ich gebe dir lieber die Telefonnummer von meinem Vater. Dann kannst du selbst in Pakistan anrufen.
    Also rief ich seinen Vater an, der unheimlich nett war. Um das Geld solle ich mir mal keine Gedanken machen. Sollten meine Angehörigen, die genauso wenig wussten, ob ich noch am Leben war, wie ich es von ihnen wusste, noch in dem kleinen afghanischen Tal leben, betrachte er es als seine Pflicht, sie dort ausfindig zu machen. Ich sagte, dass ich ihm die Reise und seine Auslagen trotzdem bezahlen würde. Dass er das als seine Pflicht betrachte, sei ja gut und schön, aber Geld sei schließlich auch wichtig. Außerdem sei es eine gefährliche Reise in ein Kriegsgebiet.
    Es verging einige Zeit. Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben, als ich eines Abends einen Anruf bekam. Die heisere Stimme des Vaters meines Freundes begrüßte mich, er klang ganz nah. Dann erzählte er mir, dass es schwierig gewesen sei, meine Angehörigen ausfindig zu

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