Im Meer schwimmen Krokodile
nichts davon wissen, dass ich allein auf irgendeiner Parkbank schlief. Also gab ich ihm zuliebe schließlich nach.
Die Familie wohnte außerhalb von Turin in einem Haus auf dem Land. Kaum dass wir aus dem Auto gestiegen wa ren – Danila hatte uns von der Bushaltestelle abgeholt –, sah ich mich von drei Hunden umgeben. Hunde sind meine Lieblingstiere, so dass ich dachte: Das könnte klappen.
Der Vater hieß Marco, und ihn kann ich – anders als meinen, den ich nur Vater genannt habe – bei seinem Vornamen nennen. Die Mutter hieß Danila, und auch sie sowie die Söhne Matteo und Francesco kann ich problemlos bei ihren Vornamen nennen. Das sind keine Namen, die mich traurig machen, im Gegenteil!
Ich hatte das Haus kaum betreten, als ich auch schon große Pantoffeln bekam, die aussahen wie Kaninchen –mit Augen, Nase und allem Drum und Dran. Nachdem wir uns die Hände gewaschen hatten, aßen wir gemeinsam zu Abend, mit Messer, Gabel, Gläsern, Servietten und so. Ich hatte solche Angst, mich danebenzubenehmen, dass ich alle ihre Gesten nachahmte, ohne auch nur eine einzige auszulassen. Ich weiß noch, dass die Großmutter an jenem Abend auch dabei war. Sie saß kerzengerade da, wobei ihre Handgelenke auf der Tischplatte ruhten, und ich ahmte sie nach. Ich machte den Rücken steif und legte die Handgelenke auf die Tischplatte. Und da sie sich nach jedem Bissen mit der Serviette über den Mund wischte, wischte auch ich mir nach jedem Bissen mit der Serviette über den Mund. Ich weiß noch, dass Danila eine Vorspeise, ein Nudelgericht und eine Hauptspeise zubereitet hatte. Ich weiß noch, wie ich dachte: Meine Güte, essen die viel!
Nach dem Abendessen zeigten sie mir ein Zimmer: Darin stand nur ein einziges Bett, und es gehörte mir ganz allein. Danila ging nach oben und brachte mir einen Schlafanzug. Hier!, sagte sie. Aber ich wusste gar nicht, was das ist, ein Schlafanzug. Ich war es gewohnt, in den Kleidern zu schlafen, die ich am Leib trug. Ich zog die Strümpfe aus und legte sie unters Bett. Als mir Danila die Sachen gab, die ein Schlafanzug waren, legte ich auch die unters Bett. Marco brachte mir ein Handtuch und einen Bademantel. Matteo wollte mir Musik vorspielen, er wollte, dass ich mir seine Lieblingsplatten anhörte. Francesco hatte sich als Indianer verkleidet und rief mich, um mir seine Spielsachen zu zeigen. Alle versuchten, mir etwas zu sagen, aber ich verstand kein einziges Wort.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war nur Francesco zu Hause, der noch jünger war als ich. Später erfuhr ich, dass ihn meine Anwesenheit beunruhigt und er sich gefragt hatte: Was der wohl anstellt? Ich dagegen fürchtete mich davor, mein Zimmer unter dem Dach zu verlassen, und kam erst herunter, als Francesco mich von der Treppe her rief und sagte, wenn ich wolle, könne ich frühstücken. Tatsächlich, auf dem Küchentisch standen Kekse, Pudding und Orangensaft. Unglaublich! Dieser Tag war einfach un glaublich, und die darauf folgenden waren es auch. Ich hätte ewig dort bleiben können. Denn wenn man merkt, dass man gut behandelt wird – und zwar auf eine ganz selbst verständliche, unaufdringliche Art –, möchte man gar nicht mehr weg.
Das einzige Problem war die Sprache. Aber als ich begriff, dass sich Danila und Marco für meine Geschichte interessierten, redete ich wie ein Wasserfall: Auf Englisch und auf Afghanisch, mit Händen und Füßen, mit Blicken und mit Gegenständen. Verstehen sie mich jetzt, oder verstehen sie mich nicht?, fragte ich mich jedes Mal. Immer mit der Ruhe, lautete die Antwort. Aber ich redete und redete.
Bis zu dem Tag, an dem ein Heimplatz frei wurde.
Ich ging zu Fuß dorthin.
Dort gibt es eine Iranerin, die für dich übersetzen wird, sagten sie.
Gut, danke.
An diesem Ort wirst du ungestört sein, sagten sie.
Gut, danke.
Möchtest du sonst noch irgendetwas wissen?
Lernen. Arbeiten.
Zuerst gehst du dorthin, und dann sehen wir weiter.
Aber dort gab es keine Iranerin, und ich war alles andere als ungestört: Stattdessen wurde ständig geschrien und gestritten. Außerdem war die Unterkunft eher ein Gefängnis als ein Heim. Direkt nach meiner Ankunft nahm man mir meinen Gürtel und den Geldbeutel mit meinem letzten bisschen Geld ab. Die Türen waren von außen verriegelt. Man durfte das Heim nicht verlassen – und das, wo ich mich in all den Jahren auf der Straße so an meine Freiheit gewöhnt hatte! Natürlich war ich dankbar für alles, immerhin war es dort sauber und
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