Im Namen Des Schweins
Zeiten.«
»So, so, da gefällt Ihnen also die gute Bergluft, nicht wahr? Nun ja, wir hatten für mehrere Jahre hier einen Einsiedler auf halber Höhe des Horlá. Sie wissen sicher bereits, dass der Horlá jener Berg hier vorne ist … Er hat dem Ort, dem Fluss, der Gegend und sogar einer berühmten Erzählung den Namen gegeben«, erwartungsvolles Schweigen.
» Le Horla von Maupassant?«
»Oh, ausgezeichnet. Sie haben ja keine Vorstellung davon, wie schwer es ist, mit diesen Barbaren hier eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Das verspricht ja ein echtes Vergnügen mit Ihnen zu werden. Laden Sie mich ein, sooft es Ihnen beliebt. Sie werden sehen, eine meiner Theorien, die ich Ihnen augenblicklich unterbreiten könnte, geht davon aus, dass Guy de Maupassant in diese Gegend reiste, kurz bevor er verrückt wurde. Die Erzählung Der Horla spielt natürlich am Ufer der Seine, aber der Name dieses Unsichtbaren ist der unseres Berges, da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Kennen Sie sich mit dem französischen Realismus aus?«
»Ein wenig.«
»Ist auch egal. Jedenfalls würde ich Ihnen empfehlen, mit dem Bus morgen früh wieder abzureisen. Nicht allen ist es vergönnt, sich dem Einfluss dieser Berge zu widersetzen.«
»Wirklich? Ich habe bisher eher den Eindruck, dass sie mir gut tun …«
»Junger Mann, dieser Ort hat noch nie jemandem gut getan. Jedenfalls niemandem, der nicht hier geboren und aufgewachsen wäre. Will sagen, niemandem, der schon einmal etwas anderes gesehen hat. Das hier ist das Purgatorium. Jeder, der hier ankommt, tut Buße. Ungewiss ist nur, für wie lang. Ich bin jetzt seit zehn Jahren hier, und unerfreulicherweise weiß ich, dass ich hier auch nicht mehr lebend herauskommen werde.«
»Nun ja, möglicherweise habe ich nicht ganz so viele Sünden zu büßen …«
»Darauf sollten Sie nicht vertrauen. Ich will mich vorerst mit Fragen nach Ihrer Vergangenheit zurückhalten, würde aber behaupten wollen, dass nicht nur die Bösen hier büßen, sondern auch die Guten. Und die Gutherzigkeit ist ja sozusagen die schlimmste aller Sünden, zumal sie einen so ausgezeichneten Ruf genießt.«
»Das erinnert mich an ein berühmtes Epigramm … Oscar Wilde ist nicht zufällig ebenfalls hier vorbeigekommen?«
»Na, so etwas. Sie besitzen ja sogar Sinn für Humor … Dazu beglückwünsche ich Sie aufrichtig. Nein, der musste in Riding Buße tun. Und nicht einmal aus den Gründen, die man ihm normalerweise andichtet … Ein so kultivierter Mensch wie Sie dürfte in der Lage sein, auch eine weitere meiner Theorien zu verstehen.«
Er legt eine kurze Pause ein, um seinen Kognak zu schlürfen. »Schauen Sie, nach all meinen Beobachtungen dürfte sich die Menschheit in drei Gruppen aufteilen lassen. Fünf Prozent der Menschen sind grausam und egoistisch, die nennen wir ›die Bösen‹. Weitere fünf Prozent sind unschuldig und selbstlos, die nennen wir meinetwegen ›die Gutem. Und die restlichen neunzig Prozent sind weder gut noch böse: sagen wir, das sind ›die Normalem. So weit, so gut, alle Probleme auf der Welt verursachen die Guten und die Bösen, die den Rest in ihre Konflikte verwickeln … Aber verzeihen Sie, ich rede die ganze Zeit. Stört es Sie, wenn jemand viel redet?«
»Nein, nein … Ich habe viel Spaß an der Unterhaltung.«
»Gut, wenn das so ist, dann will ich Ihnen mal was sagen: Wenn es nur die Bösen und fünfundneunzig Prozent Normalos gäbe, dann wäre alles ganz einfach. Die Normalen würden sich von den Bösen versklaven lassen. Basta. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass die meisten Menschen in der Lage sind, sich sehr leicht an ihr Schicksal als Sklave zu gewöhnen, so wie wir uns auch an Klimaschwankungen anpassen können oder an Epidemien oder die Armut. Alles in allem wäre es auch gar nicht so problematisch für fünfundneunzig Prozent der Menschheit, läppische fünf Prozent wie Könige leben zu lassen, meinen Sie nicht auch? Das würde per capita nur sehr wenig von jedem Einzelnen verlangen …«
»Schon möglich. Aber wenn die Normalen so leicht mit den Bösen zurechtkommen, dann müsste es ja noch viel leichter für sie sein, sich mit den Guten zu arrangieren, nicht wahr? Und niemand müsste als Sklave leben. Spräche das nicht eher für ein Leben mit den Guten?«
»Keineswegs, junger Mann. Ihr Guten braucht ja die Bösen, um Euch gut zu fühlen. Wenn es keine richtig Bösen mehr gäbe, würdet ihr Euch die weniger guten fünf Prozent der Normalos
Weitere Kostenlose Bücher