Im Netz der Meister 2
anzündete. Sie schüttete den Rest der Beerenauslese in ihr Glas. Sie öffnete die Balkontür und atmete die frische Luft tief ein. Dann zog sie an der Zigarette. Sie stand neben sich. Sie beobachtete sich beim Rauchen, beim Weintrinken und beim Warten. Nach zehn Minuten sah sie ihn auf ihrer Seite.
»Scheiße! Er ist da«, rief sie.
Sie hatte gehofft, es sei ein Irrtum, ein technischer Defekt, dass sein Nick blinkte, obwohl er gar nicht da war. Er war doch in Amerika. Er konnte nicht online sein. Er musste arbeiten. In New York. Konferenzen.
Sie wartete wieder zehn Minuten. Nichts geschah. Sie besuchte noch einmal sein Profil. Fünf Minuten.
Sie hatte eine Nachricht im Posteingang.
Sie war so aufgeregt, dass sie die Augen zusammenkniff, als sie sie las: »Hallo schöne Frau. Ich bin Luka aus Köln. Was ist eine Veilchen-Dorne?«
Sie surfte auf sein Profil und antwortete nicht. Sie wusste, dass er es noch einmal versuchen würde.
»Sprichst du nicht mit interessierten Männern?«
Ihre Finger flogen über die Tasten. Jetzt antwortete sie sofort.
Small Talk, nichts Auffälliges. Sie ging zum Regal und nahm die Flasche Beerenauslese, die Maurice dort abgelegt hatte. Sie öffnete sie, schenkte sich ein Glas ein und verschüttete dabei etwas. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Jetzt war es so weit.
Sie schrieb: »Wo bist du? Ich komme aus Siegburg.«
»Ich bin um die Ecke, Veilchen, in Köln.«
Simone hatte kein Herz, sondern einen Presslufthammer in der Brust, als sie schrieb: »Und was suchst du hier?«
Seine Antwort kam schnell: »Das ist nicht schwer zu erraten. Interessante Begegnungen, Frauen, die mich reizen und interessieren könnten, interessante Frauen, so wie du ...«
Simone schrie, schrie, schrie, feuerte das Glas an die Wand, sah nicht mal hin, als die Scherben über den Teppichboden spritzten und der Wein an der Tapete runterlief.
Sie antwortete ihm nicht. Sie löschte das neue Profil sofort wieder, schaltete den Rechner aus, trank den Wein aus der Flasche, lief ins Bad, ins Schlafzimmer, rannte wie ein gefangenes Tier im Käfig in ihrer Wohnung umher und heulte dabei, als sei sie schwer verletzt. Sie konnte keinen Gedanken zu Ende denken, schluchzte und jammerte, setzte sich auf den Boden, stand auf, torkelte zum Sofa, putzte sich mit dem Ärmel Rotz und Tränen ab und wimmerte immerzu: »Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst. Ich hab’s doch gewusst.«
Sie war so unglücklich, so verzweifelt, dass sie nicht darüber nachdachte, was sie tat: Sie schrieb eine SMS an Luka.
»Ich will dich nie, nie wieder sehen. Ruf nie mehr an, lass mich für immer in Ruhe.« Wenige Sekunden später klingelte ihr Handy.
Luka ruft an. Luka ruft an, lallte sie, als sie auf das Display starrte. Sie ging nicht ran. Der letzte Ton brach mittendrin ab.
»Ton verreckt. Wie ich«, murmelte Simone.
Sie stand auf und wankte zum Schreibtisch und machte den Computer wieder an. Sie war sehr betrunken. Sie löschte alle Mails und Mailadressen, die sie von Luka hatte. Sie wollte nicht in Versuchung kommen, ihm zu schreiben. Sie würde sich nicht lächerlich machen, sie nicht.
Diese Sau, diese Sau, diese Sau!
Sie hörte seine Stimme sagen: Kommt neue SMS: Luka sorry, SMS eben war nicht für dich, war Versehen. Schreibst du nicht zurück. Kommt wieder SMS: Wie geht’s dir denn so? Will sie wieder mit mir Kontakt, verstehst du? Sie erinnerte sich an das erste Treffen, als Luka ihr davon erzählte. Mit mir nicht, du Arschgesicht, du elender Kanake. Ich hab’s ja gewusst, ich hab’s gewusst. Irgendwas war immer komisch bei dir.
Die Wände kamen auf sie zu.
Der Fußboden war schräg.
In ihrem Schädel hämmerte es unerträglich.
Ihre Knie knickten ein. Simone kroch zum Badezimmer. Sie schnitt sich die Hände an den Scherben auf, die überall im Zimmer verstreut waren. Sie hinterließ Blutflecken auf dem Teppichboden. Die Schnitte taten nicht weh, sie spürte sie nicht.
Die schlimmen Schmerzen waren innen, zerrissen ihr Herz, wollten ihren Schädel sprengen, die Eingeweide zerfetzten. Simone stieß sich den Kopf am Türrahmen. Sie heulte.
Sie wollte schreien und schimpfen, aber sie konnte nur noch lallen. Warum? Warum? Warum?
Mühsam zog sie sich am Waschbecken hoch. Ihr Gesicht im Spiegel war eine verzerrte Fratze.
Was glotzt du so? Alles vorbei. Warum? Warum? Warum?
Simone nahm das Haarspray, sprühte es auf den Spiegel. Die Fratze verschwamm. Sie fegte alles, was
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