Im Pyjama um halb vier (German Edition)
ein Teil seines Lebens, diese Unbekannte, auf einmal hatte er jemanden, mit dem er sich über alles austauschen konnte. Ihr konnte er Dinge erzählen, die sonst niemand von ihm wusste. Er hatte noch nie in seinem Leben zu jemandem so viel Vertrauen gehabt. Der Junge im Rollstuhl wollte das alles einfach nicht mehr hergeben, wollte sie nicht verlieren. Zwar wollte er sie auch nicht belügen, zumindest nicht mit Absicht. Anfangs war es nicht so schwer. Er verschwieg ihr einfach ein paar Details aus seinem Leben. Aber irgendwann wurde dieses Schweigen zur Lüge und es gab irgendwie keinen Ausweg mehr.
Ja, Lulu, so war es wirklich. Ich hatte den Zeitpunkt für die Wahrheit verpasst. Das merkte ich spätestens in den Wochen, als es auf Weihnachten zuging und wir beschlossen hatten, uns zu treffen. Ich konnte es nicht, Lulu. Ich konnte dich nicht treffen. Weil ich deine Blicke nicht ertragen hätte. Der starrende Blick auf mich im Rollstuhl.
LULU:
Puh, das muss ich jetzt erst einmal alles sacken lassen…Das ist… also das ist echt der Hammer! Ich kann das alles gar nicht glauben!
Es lag also gar nicht an Larissa, dass du mich in München versetzt hast, sondern daran, dass du dich… geschämt hast?! War sie also gar nicht bei dir? Hast du diese ganze Geschichte auch nur erfunden? Vielleicht sogar Larissa selbst???
BEN:
Larissa… wie soll ich dir das erklären? Eine Lüge ist wie ein Unkraut, das immer weiterwuchert, wenn es erst einmal da ist. In Wahrheit gibt es keine Larissa in meinem Leben – das heißt, es gibt sie schon, aber sie ist nicht meine Freundin, sondern die von Robby, meinem jüngeren Bruder (der vollkommen gesund ist). Das meiste von dem, was ich dir über Larissa geschrieben habe, stimmt wirklich – nur dass es dabei nicht um meine Beziehung ging, sondern um die von meinem Bruder. Ich selbst kann Larissa eigentlich nicht besonders gut leiden und ich könnte mich erst recht niemals in sie verlieben (weil sie wirklich eine Streberin ist). Und weil sie zu der Art von Leuten gehört, die so einen seltsamen Gesichtsausdruck bekommen, wenn sie mich sehen. Es ist eine Mischung aus Mitleid und Abscheu, aus Betroffenheit und vielleicht sogar Neugier (weil sie wissen wollen, wie es so ist, in einem Rollstuhl zu sitzen). Man sieht es den Leuten an, was sie denken. Und man sieht es den Mädchen an, dass sie es nie für möglich halten würden, sich in einen Jungen wie mich zu verlieben.
Liebe Lulu, vielleicht verstehst du jetzt, wie es zu dieser ganzen Sache gekommen ist.
Als wir begonnen haben, über Jungs und Mädchen zu sprechen, da wollte ich endlich einmal nicht der Loser sein, nicht der arme, tapfere Kerl im Rollstuhl, der doch niemals eine Chance bei Mädchen hat. Ich wollte, dass alles so ist wie früher, vor meinem Unfall, als ich selbstbewusst und beliebt war. Damals hatte ich eine Freundin und ich habe sie sehr, sehr gerne gemocht – Sofia. Was ich dir von ihr geschrieben habe, war nicht gelogen (nur dass wir »es« getan haben, das stimmt nicht, wir waren damals erst vierzehn. Ich bin also auch eine Meerjungfrau ). Ein paar Monate nach meinem Unfall war es mit Sofia vorbei – wobei das, wie ich heute weiß, gar nicht an meinem Unfall lag oder am Rollstuhl. Sondern an mir, an dem, was dieser Schicksalsschlag aus mir gemacht hat. Eigentlich hat Sofia nämlich nach dem Unfall zu mir gehalten, sie war wirklich toll. Sie hat mich fast jeden Tag im Krankenhaus besucht und später auch in der Rehaklinik. Aber was hab ich gemacht? Ich war total bescheuert zu ihr, abweisend, richtig arschig. Damals, in dieser Situation, habe ich ihre Zuneigung einfach nicht ertragen. Ich habe mich selbst nicht ertragen – und darum auch niemanden in meiner Nähe. Du musst es dir so vorstellen: Ich habe nach meinem Unfall fast zwei Wochen im Koma gelegen, und als ich aufgewacht bin, wusste ich wegen einer schweren Gehirnerschütterung gar nichts mehr. Nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. Was aber nicht wiederkam, war das Gefühl in meinen Beinen. Und so wird es auch immer bleiben, da meine Nerven in der Lendenwirbelsäule durchtrennt sind. Nachdem mir klar geworden war, dass ich nie wieder würde laufen können, bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich habe mein Leben gehasst, ich habe mich selbst gehasst – und ich war Sofia gegenüber sehr ungerecht. Sie war so tapfer, aber ich habe ihr unterstellt, nur aus Mitleid noch mit mir zusammen zu sein. Ich war gemein zu ihr und hab mit ihr Schluss gemacht.
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