Im Rausch der Ballnacht
sie, weil sie ihn belogen hatte, würde er Ned ihren Armen und ihrem Leben entreißen.
Natürlich sagte Lizzie sich jedes Mal, dass Tyrell unmöglich die Wahrheit herausfinden konnte. Sie, Anna und Eleanor hatten geschworen, das Geheimnis zu wahren. Nur eine Handvoll Dienstboten hatten das Ende von Annas Schwangerschaft miterlebt, die anderen waren fortgeschickt worden. Diese Dienstboten, wie Leclerc und die Kinderfrau Rosie, waren vollkommen vertrauenswürdig. Bis zu diesem Tag hatten Eleanor und Lizzie es vermieden, auf Glen Barry Gäste zu empfangen. Selbst Rory ahnte nichts von Neds Existenz. Als er sie einmal besuchte, blieb Neddie in den Kinderzimmern im dritten Stock.
Und was ihre Schuldgefühle betraf, so versuchte sie die mit Vernunft zu bekämpfen. Lizzie wusste, es war falsch, Tyrell de Warenne den Sohn vorzuenthalten. Sie wusste, er würde ein guter Vater sein. Doch diese Chance gab sie ihm nicht, nicht jetzt, nicht solange Ned ein Kind war. Lizzie hatte geschworen, Annas Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, um sie nicht zu ruinieren – und auf diese Weise konnte sie Ned als ihr eigenes Kind behalten.
So vieles hatte sich verändert, seit sie dieses Versprechen gegeben hatte. Ned hatte sich zu einer eigenständigen kleinen Persönlichkeit entwickelt. Lizzie musste ihn nur ansehen, um zu erkennen, dass er ein de Warenne war. Sie liebte ihn so sehr, dass sie wusste, eines Tages würde sie ihm die Wahrheit über seinen Vater sagen müssen, damit er sein Geburtsrecht geltend machen konnte. Aber Annas Ehe wäre zerstört, wenn Ned offen als ein de Warenne auftrat. Nie würde Tyrell glauben, dass Lizzie seine Mutter war, und wenn er Ned als seinen Sohn anerkennen sollte, dann musste er die Wahrheit erfahren.
Vor elf Monaten noch war Lizzie das Versprechen Anna gegenüber so einfach erschienen. Jetzt war sie fest entschlossen, eines Tages Neds Geburtsrecht für ihn wahrzunehmen. Irgendwann würde das Versprechen, das sie Anna gegeben hatte, gebrochen werden.
Aber noch war es nicht so weit.
Schuldgefühle nagten an ihr, aber Lizzie sagte sich, sie würde bis zu Neds achtzehntem Geburtstag warten. Bis dahin würde selbst Anna sicher wollen, dass er seinen Platz in der Familie de Warenne einnahm.
Eleanor unterbrach ihre Gedanken. “Wir müssen reden, Elizabeth”, sagte sie.
Lizzie ahnte, was kommen würde. Doch sie war einfach noch nicht dazu bereit, nach Hause zurückzukehren. Niemals würde sie dazu bereit sein – Raven Hall lag zu nahe bei Adare. “Ich backe eine Pastete”, sagte sie hastig. “Aber in einer Stunde oder so werde ich fertig sein.”
“Die Pastete kann warten”, sagte Eleanor mit ernster Miene. “Elizabeth, auf der Suche nach dir war ich in deinem Zimmer, und da sah ich einen Brief von deiner Mutter. Du hast den Brief noch nicht geöffnet. Das Datum zeigt, dass er schon eine Woche alt ist. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben, Liebes.”
Lizzie wusste, dass Eleanor recht hatte. Sie vermisste ihre Eltern und auch Georgie. Anna hatte Glen Barry schon vor längerer Zeit verlassen und wie geplant im September Lieutenant Morely geheiratet. An der Hochzeit hatte Lizzie nicht teilgenommen; diese Entscheidung hatte sie mit Anna gemeinsam getroffen. Zusammen mit ihrem Ehemann residierte Anna auf dessen Familiensitz in Derbyshire. Thomas hatte kurz nach der Vermählung den Dienst quittiert und galt jetzt als Privatier. Annas Briefe zeigten, dass sie sehr glücklich war. Gelegentlich waren sie in Cottingham zu Gast, und sie schrieb, dass sie sehr beliebt sei und Thomas nun eine Familie gründen wollte. Die Tatsache, dass Annas Leben sich perfekt zu entwickeln schien, bestätigte Lizzie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten – abgesehen davon, dass Tyrell keine Gelegenheit bekam, sein Kind großzuziehen.
Aber sie vermied es, die Briefe von Zuhause zu lesen. Georgie forderte sie immer wieder auf zurückzukommen. Kürzlich hatte sie sich mit Peter Harold verlobt, und Lizzie wusste, dass Georgie schrecklich unglücklich war. Das las sie zwischen den Zeilen. Mama deutete an, dass sie ihren Aufenthalt über Gebühr ausgedehnt hatte. Offensichtlich vermisste Mama sie und fühlte sich durch ihre lange Abwesenheit gekränkt. Sogar Papa hatte geschrieben und sie ganz offen aufgefordert, nach Hause zu kommen, selbst wenn sie dazu die ewig lamentierende Eleanor mitbringen müsste. In der vorigen Woche hatte Lizzie Briefe von Mama und Georgie erhalten. Beide lagen ungeöffnet auf ihrem
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