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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ein Mann zu werden, musste bei ihrem Volk jeder Junge einen Hirsch erlegen – es war der Beweis dafür, dass er fähig sein würde, eine Familie zu ernähren. Aber um zu beweisen, dass er wirklich furchtlos war, musste er die weit schwierigere und gefährlichere Aufgabe bewältigen, einen Bären zu töten. Erst wenn ein Mann das vollbracht hatte, war er ein richtiger Krieger.
    »Ja«, antwortete er. Sieben Jahre zuvor, tief im Irokesengebiet, hatten ihn die Indianer gewarnt: Auf dem Gebirgspfad, den er nehmen wollte, seien schon einige Männer angefallen worden. Normalerweise griffen Bären Menschen nicht an, aber wenn sie es einmal doch taten, waren sie fürchterlich. Er war also vorbereitet gewesen. Aber als die Bestie plötzlich auftauchte und wütend auf ihn losstürmte, war es reines Glück gewesen, dass er es geschafft hatte, sie mit dem einen Schuss aus seiner Muskete auf der Stelle zu töten. »Es war ein Schwarzbär«, erklärte er ihr, »in den Bergen.«
    »Hast du ihn allein getötet?«
    »Ja.«
    Sie sagte nichts, aber er sah ihr an, dass es sie freute, dass ihr Vater ein richtiger Krieger war.
    Es war noch immer früher Nachmittag. Das Sonnenlicht drang durch das Laub auf die grasigen Hänge, auf denen die Erdbeeren wuchsen. Von Frieden erfüllt, legte er sich auf den Rücken. Der Plan war ihm plötzlich spontan eingefallen: den ganzen Tag mit Bleiche Feder zu verbringen. Am nächsten Morgen würden die Indianer mit dem Kanu am Nordende der Insel anlegen und sie wieder den Fluss hinauf mitnehmen. Dann konnte er über Smits Bouwerij zurückreiten und noch lange vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Es war ein guter Plan, und sie hatten jede Menge Zeit. Er schloss die Augen.
    Er hatte vielleicht ein paar Minuten gedöst, als er sich aufsetzte und merkte, dass Bleiche Feder verschwunden war.
    Er schaute sich um. Nichts von ihr zu sehen. Er runzelte die Stirn. Einen Moment lang verspürte er einen Stich von Angst. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Er wollte gerade nach ihr rufen, als er eine winzige Bewegung wahrnahm. Vielleicht hundert Schritte von ihm entfernt, im Gehölz, hatte eine Hirschkuh den Kopf gehoben. Instinktiv erstarrte van Dyck und gab keinen Ton von sich. Die Hirschkuh äugte in seine Richtung, sah ihn aber nicht. Das Tier senkte den Kopf wieder.
    Und dann sah er Bleiche Feder. Sie stand weitab, rechts von der Hirschkuh, hinter einem Baum, gegen den Wind. Sie legte sich einen Finger an die Lippen, bedeutete ihm: leise! Dann trat sie aus der Deckung hervor.
    Van Dyck hatte schon oft die Pirschjagd auf den Hirsch gesehen; er hatte sie selbst praktiziert. Aber noch niemals so. Während sie sich vorsichtig zwischen den Bäumen anschlich, schien sie leichter als ein Schatten zu sein. Er horchte nach dem allerleisesten Geräusch von Mokassins auf Moos. Nichts. Während sie sich näher heranpirschte, duckte sie sich immer tiefer, fast wie eine kauernde Katze – wurde langsamer und langsamer, ließ bei jedem neuen Schritt vorwärts den Fuß schwerelos wie ein Schnurrhaar über dem Boden schweben. Sie befand sich jetzt hinter der Hirschkuh, nur noch fünfzehn Schritt entfernt …, dann zehn …, fünf. Noch immer nahm das Tier sie nicht wahr. Van Dyck konnte es nicht glauben. Sie stand jetzt hinter einem Baum, drei Schritte von der Hirschkuh entfernt, die mit gesenktem Kopf äste. Sie wartete. Das Tier hob den Kopf, verharrte, senkte ihn wieder. Und Bleiche Feder sprang. Wie ein Blitz schoss sie durch die Luft. Die Hirschkuh schrak hoch, machte einen Satz und stürmte zwischen den Bäumen davon – aber nicht bevor das Mädchen sie mit einem Freudenschrei berührt hatte.
    Dann rannte sie lachend zu ihrem Vater zurück, der sie mit einem Schwung in die Arme nahm. Und Dirk van Dyck, dem Niederländer, wurde bewusst, dass er noch nie so stolz auf ein Kind gewesen war und es auch niemals wieder sein würde, wie er in diesem Moment auf seine anmutige kleine indianische Tochter stolz war.
    »Ich hab sie berührt!«, rief sie triumphierend.
    »Das hast du.« Er drückte sie an sich. Sich vorzustellen, dass er der Vater eines vollkommenen Kindes war … Er schüttelte staunend den Kopf.
    Danach saßen sie noch eine Weile beisammen. Er sagte nicht viel, und sie schien das nicht zu stören. Er fragte sich gerade, ob es Zeit zum Aufbruch wäre, als sie sich zu ihm wandte.
    »Erzähl mir von meiner Mutter.«
    »Also …« Er überlegte. »Sie war schön. Du bist ihr sehr ähnlich.«
    Er dachte an ihre

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