Im Rausch der Freiheit
hatte er seine indianische Frau im Stich gelassen. Hätte er nicht wenigstens das Kind besuchen können? Der Schmerz, die entsetzliche, eisige Scham wegen seines Verhaltens verfolgte ihn noch immer. Mehrmals im Jahr schreckte er mitten in der Nacht aus dem Schlaf, schreiend vor Entsetzen über das, was er getan hatte.
Einen Monat später war er zurückgekehrt; er hatte Bleiche Feder gesund im Schoß ihrer Großfamilie vorgefunden und erfahren, dass ihre Mutter am Tag nach seiner Flucht gestorben war, und zwar nicht an den Blattern, sondern an den Masern.
Er hatte versucht, sein Versagen an ihrer und seiner Tochter wiedergutzumachen. Jedes Jahr, wenn ihr Stamm das Totenfest feierte, war er zu ihr gekommen. Normalerweise erwähnte man die Verstorbenen nicht, aber zu diesem jährlichen Fest gehörte es sich, über sie zu sprechen und für ihre Seelen zu beten. Und genau das hatte er die letzten paar Tage lang getan, bevor er mit Bleiche Feder den Fluss hinabgefahren war.
»Erzähl mir, woran du dich von mir erinnerst, als ich klein war«, sagte sie.
»Wir sollten jetzt weiter«, erwiderte er, »aber ich erzähle es dir unterwegs.«
Also verließen sie die Lichtung, wo die wilden Erdbeeren wuchsen, kehrten zum alten Indianerpfad zurück, und während er langsam dahinritt, tat er sein Bestes, um sich all die kleinen Begebenheiten aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, an die er sich erinnern konnte – aus Tagen, die er zusammen mit ihr und ihrer Mutter verbracht hatte; und dies schien Bleiche Feder Freude zu bereiten. Nach einer Weile nahm er sie, obwohl sie nicht müde war, hoch und setzte sie vor sich aufs Pferd.
Es dämmerte noch nicht, als sie das obere Ende Manhattans erreichten, und sie schlugen ihr Lager auf einer Anhöhe auf, oberhalb von einigen Indianerhöhlen. Dann lagen sie in ihre Decken gewickelt da und starrten zum Himmel empor, der klar und voller Sterne war.
»Weißt du, wo meine Mutter jetzt ist?«, fragte sie ihn.
»Ja.« Er wusste, was die Indianer glaubten, und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die ganze Länge der Milchstraße. »Ihr Geist ist auf dem Pfad der Sterne bis zum zwölften Himmel gewandert. Sie ist beim Schöpfer aller Dinge.«
Sie blieb lange Zeit stumm, und er fragte sich, ob sie überhaupt noch wach war. Dann aber sagte sie mit schläfriger Stimme: »Ich denke oft an dich.«
»Ich denke auch an dich.«
»Wenn du mich nicht sehen kannst, kannst du mich jederzeit hören.«
»Sag mir, wie.«
»Wenn ein Lüftchen weht, lausche auf die Stimme des Windes, der in den Kiefern seufzt. Dann wirst du mich hören.«
»Ich werde lauschen«, sagte er.
Am nächsten Morgen stiegen sie hinunter ans Wasser, wo die zwei Indianer mit dem großen Kanu sie erwarteten. Dort nahmen sie voneinander Abschied, und Dirk van Dyck kehrte nach Hause zurück.
*
Margaretha van Dyck wartete drei Wochen ab. Es war Sonntagnachmittag, und sie saßen in der Stube. Ihr Mann las ihren Kindern und Quash, dem Sklavenjungen, eine Geschichte vor, während sie von ihrem Sessel aus zusah. Das waren die Zeiten, da sie ihn am meisten mochte. Ihr Sohn Jan war dreizehn, ein kräftiger Junge mit einem dichten braunen Haarschopf, der seinen Vater bewunderte und in seine Fußstapfen treten wollte. Dirk nahm ihn oft mit ins Lagerhaus der Kompanie, erklärte ihm die Routen der Schiffe, nannte die Häfen, die sie anliefen, und sprach von den Passatwinden, denen die Kapitäne folgen mussten. Doch Jan erinnerte sie auch an ihren eigenen Vater. Er hatte nicht so viel von Dirks Eigensinn und Unberechenbarkeit, dafür mehr Interesse am Kontor. Sie war zuversichtlich, dass er seinen Weg gehen würde.
Einige Jahre zuvor hatte Margaretha zwei Kinder an einem Fieber verloren. Das war ein furchtbarer Schlag gewesen. Doch die Geburt von Clara hatte ihr ein wenig darüber hinweggeholfen. Blond und blauäugig, sah sie jetzt mit ihren fünf Jahren wie ein Engel aus. Ihr Vater vergötterte sie.
Was Quash anging, den Sklavenjungen, so machte er sich sehr gut. Er war ungefähr so alt wie Jan und hatte früher zusammen mit ihm spielen dürfen. Auch zu Clara war er sehr lieb. Aber Quash wusste, wo sein Platz im Haushalt war.
Und während sie ihren Mann dabei betrachtete, wie er den Kindern vorlas, dachte Margaretha, dass ihre Ehe – vorausgesetzt, sie konnte ein paar Nachbesserungen vornehmen – vielleicht doch noch zu einer sehr glücklichen werden konnte.
Nachdem die Vorlesestunde vorbei war und die Kinder zu Nachbarn gegangen
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