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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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kleines trockenes Lachen aus und ging den Korridor hinauf, so daß Callandra die andere Richtung zu Kristian Becks Räumen einschlagen konnte. Sie war plötzlich nervös, ihre Hände heiß, ihr Mund trocken. Das war doch lächerlich! Sie war eine Witwe mittleren Alters, weit davon entfernt, eine Schönheit zu sein, und besuchte einen vielbeschäftigten Arzt, nichts weiter – wozu die ganze Aufregung? Sie klopfte abrupt an seine Tür.
    »Herein.« Seine Stimme war überraschend tief und hatte einen kaum wahrnehmbaren Akzent, den sie nie so recht hatte einordnen können. Mitteleuropäisch, sicher, aber aus welchem Land genau, wußte sie nicht. Sie hatte ihn nie danach gefragt. Sie drehte am Knopf und schob die Tür auf. Er stand am Tisch vor dem Fenster, eine Reihe Papiere vor sich ausgebreitet, und drehte sich um, um zu sehen, wer hereingekommen war. Er war nicht groß, strahlte aber eine gewisse Kraft aus, körperlich wie emotional. Die dunklen Augen, die sein Gesicht dominierten, hatten eine wunderschöne Form, und der Mund war sinnlich und humorvoll zugleich. Als er sie sah, wich sein besorgter Ausdruck sofort einer echten Freude.
    »Lady Callandra! Wie schön, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, Ihr Besuch bedeutet nicht, daß etwas nicht stimmt?«
    »Jedenfalls nichts Neues.« Sie schloß die Tür hinter sich. Sie hatte sich eine gute Entschuldigung für ihr Kommen zurechtgelegt, aber jetzt wollte sie ihr nicht mehr einfallen. »Ich habe auf Sir Herbert einzuwirken versucht, die Krankenschwestern dazu anzuhalten, die Fäkalieneimer abzudecken«, sagte sie etwas zu schnell. »Aber ich glaube nicht, daß er einen großen Sinn darin sieht. Er war auf dem Weg in den Operationssaal, und ich hatte das Gefühl, daß er in Gedanken längst bei seiner Patientin war.«
    »Und jetzt wollen Sie statt dessen mich überzeugen?« Sein Lächeln war breit und spontan. »Ich habe bisher nicht mehr als zwei, drei Schwestern gefunden, die sich eine Order länger als einen Tag merken können, geschweige denn, daß sie sich daran hielten. Die armen Dinger, jeder setzt ihnen zu, die Hälfte der Zeit über sind sie hungrig, die andere betrunken.« Sein Lächeln verschwand wieder. »Sie machen ihre Arbeit, so gut sie’s eben verstehen.«
    Seine Augen leuchteten, und als er sich gegen den Tisch lehnte, hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit. »Wissen Sie, ich habe eben einen äußerst interessanten Artikel gelesen. Ein Arzt zog sich auf der Heimreise von den westindischen Inseln ein Fieber zu und hat sich geheilt, indem er nachts an Deck ging, die Kleidung ablegte und eine kalte Dusche mit Meerwasser nahm. Ist das nicht unglaublich?« Er beobachtete sie, musterte den Ausdruck in ihren Augen. »Es linderte die Symptome, er schlief gut und war am Morgen wieder wohlauf. Als sich das Fieber am Abend wieder einstellte, behandelte er sich auf die gleiche Art, und wieder war es verschwunden. Die Anfälle wurden von Mal zu Mal leichter, und als das Schiff in den Hafen einlief, war er wieder ganz der alte.«
    Sie war etwas verblüfft, aber sein Eifer wirkte ansteckend.
    »Können Sie sich Mrs. Flaherty vorstellen, wenn Sie versuchen würden, Ihre Patienten mit kaltem Wasser zu traktieren?« Sie versuchte nicht zu lachen, aber ihre Stimme bebte, wenn auch weniger aus Belustigung denn aus Nervosität. »Ich kann sie noch nicht einmal dazu überreden, bei Sonne die Fenster zu öffnen, geschweige denn nachts!«
    »Ich weiß!« sagte er rasch. »Ich weiß, aber wir entdecken jedes Jahr etwas Neues.« Er griff nach dem Stuhl zwischen ihnen und drehte ihn so, daß sie sich bequem setzen konnte, aber sie ignorierte ihn. Er bot ihr den Artikel an, als wolle er seine Freude mit ihr teilen.
    Sie nahm ihn und konnte nicht anders, als zu lächeln, als sich ihre Blicke trafen.
    »Sehen Sie ihn sich an!« befahl er ihr.
    Gehorsam sah sie sich den Artikel an. Er war auf deutsch. Er sah ihre Verwirrung. »Oh, tut mir leid.« Ein zartes Rosa überzog seine Wangen. »So mühelos, wie ich mich mit Ihnen unterhalte, habe ich ganz vergessen, daß Sie des Deutschen nicht mächtig sind. Soll ich Ihnen vorlesen, was drinsteht?« Es war so deutlich zu sehen, wieviel ihm daran lag, daß sie es ihm, selbst wenn sie daran gedacht hätte, unmöglich abschlagen konnte.
    »Ich bitte darum«, forderte sie ihn auf. »Es hört sich nach einer ausgesprochen wünschenswerten Behandlung an.«
    Er schien überrascht. »Finden Sie wirklich? Also ich möchte mich nicht eimerweise mit kaltem

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