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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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handelte es sich um die Patientin, die er erwartete.
    Erst nach einer ermüdenden Pflichtstunde mit dem schwarzgekleideten Kämmerer, mit dem sie Finanzen, Spenden und Schenkungen diskutierte, traf Callandra eine der anderen Damen vom Ausschuß: Lady Ross Gilbert, von der Mrs. Flaherty so wohlwollend gesprochen hatte. Callandra befand sich oben auf der Treppe, als Berenice Ross Gilbert sie einholte. Sie war eine große Frau, die sich mit jener eleganten Leichtigkeit bewegte, die selbst der gewöhnlichsten Kleidung noch den Anschein der neuesten Mode gibt. Heute trug sie ein grünes Kleid mit vorne extrem spitz zulaufender Taille und einem Rock aus weichem Musselin, der mit drei gewaltigen, blumenbestickten Volants besetzt war. Es schmeichelte ihrem rötlichen Haar und dem blassen Teint; ihr Gesicht mit den schweren Lidern und dem etwas fliehenden Kinn war auf seine Art wunderschön.
    »Guten Morgen, Callandra«, sagte sie lächelnd, während sie ihre Röcke um den Endpfosten des Geländers schwang, um neben ihr die Treppe hinabzusteigen. »Wie ich hörte, hatten Sie heute eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Mrs. Flaherty.« Sie machte ein Gesicht, das eine amüsierte Resignation zum Ausdruck bringen sollte. »An Ihrer Stelle würde ich Miss Nightingale vergessen. Sie ist eine ziemliche Romantikerin, und ihre Ideen sind bei uns kaum anwendbar.«
    »Von Miss Nightingale war gar nicht die Rede«, antwortete Callandra, die neben ihr ging. »Ich habe ihr nur gesagt, ich hätte keine Lust, die Schwestern über Ehrlichkeit und Nüchternheit zu belehren.«
    Berenice lachte abrupt. »Es wäre auch reine Zeitverschwendung, meine Liebe. Sie würden damit bestenfalls Mrs. Flaherty das Gefühl geben, es wenigstens versucht zu haben, das wäre aber auch schon alles.«
    »Hat sie Sie denn nicht darum gebeten?« fragte Callandra neugierig.
    »Aber gewiß doch! Und höchstwahrscheinlich werde ich auch zusagen. Wenn es dann soweit ist, kann ich ja sagen, was ich will.«
    »Das wird sie Ihnen nie verzeihen«, warnte Callandra sie.
    »Mrs. Flaherty verzeiht nichts. Aber, was wollen Sie denn sagen?«
    »Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Berenice leichthin.
    »Nichts so Grimmiges wie Sie!« Sie erreichten den Fuß der Treppe.
    »Also wirklich, meine Liebe, Sie wissen doch, daß Sie die Leute hier nie dazu bekommen werden, bei diesem Klima die Fenster offenzulassen! Sie würden erfrieren. Selbst auf den westindischen Inseln, wissen Sie, achteten wir darauf, daß die Nachtluft draußen blieb. Sie ist einfach nicht gesund, so warm es dort auch ist.«
    »Das ist doch etwas ganz anderes«, widersprach Callandra.
    »Bei all den Arten von Fieber, die es dort gibt.«
    »Hier haben wir die Cholera, Typhus und die Pocken«, erinnerte sie Berenice. »Erst vor fünf Jahren hatten wir ganz in der Nähe eine schlimme Choleraepidemie, was mir doch recht gibt! Man sollte die Fenster geschlossen halten, vor allem im Krankenzimmer.«
    Sie gingen nebeneinander den Flur entlang.
    »Wie lange haben Sie denn auf den Inseln gelebt?« fragte Callandra. »Wo war das gleich wieder – Jamaika?«
    »Oh, fünfzehn Jahre«, sagte Berenice. »Ja, Jamaika. Meine Familie hatte dort Plantagen. Ein ausgesprochen angenehmes Leben.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber langweilig, wenn man sich nach der Gesellschaft und der Aufregung Londons sehnt. Woche für Woche dieselben Leute. Nach einiger Zeit hat man das Gefühl, jeden halbwegs wichtigen Menschen zu kennen und alles gehört zu haben, was er zu sagen hat.«
    Sie hatten einen Quergang erreicht, und Berenice schien linker Hand in eine Station zu wollen. Callandra wollte Kristian Beck aufsuchen. Am wahrscheinlichsten, dachte sie, dürfte er sich um diese Tageszeit in seinen eigenen Räumen aufhalten, wo er studierte, Patienten empfing und seine Bücher und Akten hatte. Und seine Räume lagen rechter Hand.
    »Es muß trotzdem schwer gewesen sein, wegzugehen«, sagte sie ohne echtes Interesse. »Sie mußten doch erwarten, daß in England alles ganz anders wäre und Sie Ihre Familie vermissen würden.«
    Berenice lächelte. »Als ich dort wegging, gab es nicht mehr allzuviel zu verlassen. Die Plantagen waren längst kein so gutes Geschäft mehr wie früher. Ich erinnere mich an den Sklavenmarkt in Kingston, als ich noch ein Kind war, aber natürlich ist die Sklaverei schon seit Jahren verboten.« Sie fuhr mit der Hand über ihre voluminösen Röcke, um ein Stück losen Faden wegzuwischen.
    Dann stieß sie ein

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