Im Schatten der Gerechtigkeit
Callandra ungeduldig. »Gehen Sie einen suchen! Es muß doch wohl ein Fensterhaken auf der Station sein.« Sie wies auf die Tür zur nächstgelegenen Station.
»Stehen Sie nicht herum, holen Sie ihn!«
Widerstrebend machte die Jüngere Anstalten zu gehen, zögerte noch einmal und warf ihrer Kollegin einen bösen Blick zu, bevor sie ging.
Callandra spähte in die Öffnung. Auch sie konnte nichts erkennen. Offensichtlich war der Schacht blockiert, aber wie weit unten, war nicht zu sehen.
Die Schwester kam mit einem langstieligen Fensterhaken zurück und reichte ihn Kristian, der ihn in die Öffnung steckte. Aber so weit er sich auch hineinlehnte, er traf auf keinerlei Widerstand. Das Hindernis, was immer es sein mochte, war außerhalb seiner Reichweite.
»Wir müssen hinunter und sehen, ob wir es von unten herausbekommen können«, sagte er nach einem weiteren erfolglosen Versuch.
»Äh…« Die jüngere der beiden Schwestern räusperte sich. Sie wandten sich nach ihr um.
»Dr. Beck, Sir.«
»Ja?«
»Lally, das ist eins von den Mädchen, die im Operationssaal saubermachen. Also die ist erst dreizehn und dürr wie’n Karnickel zu neun Pence. Die könnte da leicht runterrutschen, und da ja die Wäschekörbe unten stehen, würd’ sie sich wohl auch nicht weh tun.«
Kristian zögerte nur einen Augenblick.
»Gute Idee. Holen Sie sie, ja?« Er wandte sich an Callandra.
»Wir sollten hinuntergehen in die Waschküche, um sicherzustellen, daß sie auch weich landet.«
»Ja, Sir, ich geh sie mal holen.« Worauf sie rasch verschwand; hinter der nächsten Ecke begann sie zu laufen.
Callandra, Kristian und die andere Schwester wandten sich in die entgegengesetzte Richtung und gingen in den Keller. Durch dunkle, spärlich von Gaslampen erhellte Gänge gelangten sie in die Waschküche, wo riesige Kupferkessel Dampf ausstießen und Rohre klapperten, aus denen siedendes Wasser kam. Frauen mit hochgekrempelten Ärmeln, angespannten Muskeln, hochroten Gesichtern und tropfnassem Haar, hievten das nasse Leinen auf hölzerne Pfähle. Eine oder zwei drehten sich nach den ungewöhnlichen Eindringlingen um, machten sich aber dann sofort wieder an die Arbeit.
Kristian trat ans untere Ende des Wäscheschachts und spähte nach oben; als er den Kopf wieder herausnahm, sah er Callandra kopfschüttelnd an.
Sie schob einen der großen Weidenkörbe unter den Schacht und warf einige Bündel Schmutzwäsche hinein, um den Fall der Kleinen zu dämpfen.
»Da hätte nichts hängenbleiben dürfen«, sagte Kristian mit gerunzelter Stirn. »Laken sind doch weich genug, um durchzurutschen, selbst wenn man mehrere auf einmal hineinstopft. Vielleicht hat jemand Abfall hineingeworfen.«
»Wir werden es gleich sehen«, antwortete sie mit einem erwartungsvollen Blick nach oben.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Von oben drang gedämpftes Geschrei herab, schwach und unmöglich zu verstehen, dann folgte ein Augenblick Schweigen, ein Kreischen, ein merkwürdiges Schaben und ein weiterer Schrei. Eine Frau landete im Wäschekorb, die Röcke verschoben, Arme und Beine merkwürdig verdreht. Kurz nach dem Schrei kam das kleine dünne Putzmädchen, das noch einmal aufkreischte, sich dann aber aufrappelte, um wie ein Äffchen aus dem Korb zu klettern. Auf dem Boden brach sie laut heulend zusammen.
Kristian beugte sich vor, um der anderen Frau aufzuhelfen, dann jedoch lief sein Gesicht dunkel an und er griff nach Callandra, um sie zurückzuhalten. Aber es war schon zu spät. Sie hatte bereits in den Korb geblickt und sofort gesehen, daß die Frau nicht mehr lebte. Die aschfahle Färbung ihres Gesichts, die blauen Lippen, vor allem aber die schrecklichen Flecken am Hals waren nicht zu mißdeuten.
»Es ist Schwester Barrymore«, sagte Kristian heiser, dem die Stimme fast versagte. Er fügte erst gar nicht hinzu, daß sie tot war; er sah an Callandras Blick, daß sie nicht nur das wußte, sondern auch, daß sie weder durch einen Unfall noch durch eine Krankheit ums Leben gekommen war. Instinktiv streckte er die Hand aus, als wolle er die Frau berühren – als könne sein Mitgefühl sie noch erreichen.
»Nein«, sagte Callandra leise. »Nicht…« Er öffnete den Mund, als wolle er einen Einwand vorbringen, erkannte aber dann, daß es sinnlos war. Er starrte auf die Leiche der Frau, und sein Blick füllte sich mit Traurigkeit. »Warum hat man ihr das angetan?« fragte er hilflos. Ohne nachzudenken, legte Callandra ihm eine Hand auf den Arm und drückte
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