Im Schatten der Gerechtigkeit
sanft.
»Das können wir noch nicht wissen. Aber wir müssen die Polizei rufen, da es sich um einen Mord zu handeln scheint.« Eine der Wäscherinnen wandte sich um, womöglich weil das Putzmädchen ihre Aufmerksamkeit erregte, das eben wieder zu kreischen begann, und sah den Arm der Leiche über den Rand des Wäschekorbs ragen. Sie kam herüber und starrte sie mit offenem Mund an. Dann begann auch sie zu schreien.
»Mord!« Sie holte tief Luft und schrie, durchdringend, mit einer Stimme so gellend, daß sie selbst das Zischen des Dampfes und das Klappern der Rohre übertönte: »Mord! Hilfe! Mord!«
Worauf auch die anderen Frauen ihre Arbeit unterbrachen und sich um sie scharten, einige heulend, einige kreischend, während eine gar ohnmächtig zu Boden sank. Keiner achtete auf das Mädchen.
»Nun ist aber Schluß!« befahl Kristian scharf. »Hören Sie sofort damit auf und gehen Sie wieder an die Arbeit!«
Irgendeine Kraft in ihm, vielleicht auch sein Ton oder sein Auftreten, rührten an ihre angeborene Angst vor Autorität, so daß sie, eine nach der anderen, verstummten und zurückwichen. Aber nicht eine kehrte zu den Kesseln oder den langsam abkühlenden Haufen dampfender Wäsche auf den Steinplatten und in den Wannen zurück.
Kristian wandte sich an Callandra.
»Sie gehen besser und informieren Sir Herbert, damit er die Polizei ruft«, sagte er leise. »Das können wir nicht alleine erledigen. Ich bleibe hier und passe auf, daß sie niemand anrührt. Und nehmen Sie das Putzmädchen mal lieber mit, das arme Kind. Sorgen Sie dafür, daß sich jemand um sie kümmert.«
»Sie wird es jedem erzählen«, gab Callandra zu bedenken.
»Zweifellos mit zahlreichen Ausschmückungen. Das halbe Krankenhaus wird denken, es sei zu einem Massaker gekommen. Einige werden hysterisch reagieren. Und die Patienten werden darunter leiden.«
Er zögerte einen Augenblick und ließ sich durch den Kopf gehen, was sie gesagt hatte.
»Dann bringen Sie sie besser zur Oberschwester und erklären warum. Und anschließend gehen Sie zu Sir Herbert. Ich werde zusehen, daß die Wäscherinnen hier bleiben.«
Sie lächelte und nickte leicht. Dann wandte sie sich dem Mädchen zu, die sich gegen die füllige Gestalt einer schweigenden Wäscherin drückte. Ihr schmales Gesicht war blutleer, und die dünnen Arme hatte sie fest um ihren Körper geschlungen, als halte sie sich selbst, um nicht vor Zittern zusammenzubrechen.
Callandra streckte ihr eine Hand hin. »Komm«, sagte sie sanft, »ich nehme dich mit hinauf, wo du dich setzen und eine Tasse Tee trinken kannst, bevor du dich wieder an die Arbeit machst.« Von Mrs. Flaherty sagte sie nichts; sie wußte, daß die meisten Schwestern und Putzmädchen Angst vor ihr hatten, und das zu Recht.
Das Kind starrte sie an, aber es war nichts Ehrfurchtgebietendes in Callandras Gesicht, ihrer unordentlichen Frisur und der eher behäbigen Gestalt unter dem wollenen Kleid. Sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mrs. Flahertys grimmiger Hagerkeit.
»Komm schon«, sagte Callandra, diesmal etwas energischer. Gehorsam machte sich die Kleine los und folgte, wie sie es gewohnt war, einen Schritt hinterdrein.
Sie hatten Mrs. Flaherty rasch gefunden. Das ganze Krankenhaus wußte, wo sie war. Die Nachricht verbreitete sich wie eine Warnung, wann immer sie irgendwo vorbeikam. Flaschen wurden versteckt, Schrubber fester geschoben, Köpfe beugten sich tiefer über die Arbeit.
»Ja, Eure Ladyschaft, was ist denn nun wieder?« sagte sie freudlos, während ihr ungnädiger Blick auf das Putzmädchen fiel. »Sie ist doch nicht krank, oder?«
»Nein, Oberschwester, nur völlig verschreckt«, antwortete Callandra. »Wir haben im Wäscheschacht eine Leiche entdeckt, und das arme Kind hier hat sie gefunden. Ich bin unterwegs zu Sir Herbert, damit er die Polizei holt.«
»Wozu das denn?« fuhr Mrs. Flaherty sie an. »Eine Leiche in einem Krankenhaus ist nun wirklich nichts Ungewöhnliches, auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie sie in die Wäscherutsche gekommen ist!« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ich hoffe, es war nicht einer der jungen Ärzte. Die haben ja manchmal eine kindische Auffassung von Amüsement.«
»Niemand könnte das amüsant finden, Mrs. Flaherty.« Callandra war überrascht, daß ihre Stimme so ruhig war. »Es handelt sich um Schwester Barrymore, und sie ist keines natürlichen Todes gestorben. Ich werde die Angelegenheit nun Sir Herbert melden, und ich wäre
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