Im Schatten der Gerechtigkeit
antwortete Callandra und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Oberschwester. »Aber Vorträge zu halten ist keine Lösung. Wir brauchen in diesem Beruf eine andere Sorten von Frauen, die man freilich auch entsprechend behandeln müßte.«
Mrs. Flaherty verzog irritiert das Gesicht. Die Argumente waren ihr nicht neu, und sie waren ebenso wirklichkeitsfremd wie undurchführbar.
»Das ist ja alles gut und schön, die Dame«, sagte sie spitz.
»Aber wir müssen nun mal mit dem zurechtkommen, was wir haben, und das sind Faulheit, Trunksucht, Diebstähle und völlige Verantwortungslosigkeit. Wenn Sie helfen wollen, dann tun Sie was dagegen und reden nicht über Dinge, die es nie und nimmer geben wird.«
Callandra öffnete schon den Mund, um ihr zu widersprechen, aber ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Frau abgelenkt, die mitten auf dem Weg zwischen den Betten zu würgen begann, die Patientin neben ihr rief um Hilfe.
Eine blasse fettleibige Frau mit einem leeren Eimer erschien und watschelte auf die sich übergebende Patientin zu.
»Das sind die Digitalisblätter«, sagte Mrs. Flaherty nüchtern.
»Die Ärmste ist wassersüchtig. Seit Tagen hat sie nicht mehr Wasser gelassen, aber die werden ihr helfen. Sie war schon mal hier und hat sich wieder erholt.« Sie wandte sich ab und ihrem Tisch zu, an dem sie sich Notizen über Medikationen und die Reaktionen darauf machte. Die schweren Schlüssel an ihrem Gürtel klapperten. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden«, fuhr sie, ohne Callandra eines Blickes zu würdigen, fort. »Ich habe eine Menge Arbeit, und ich bin sicher, Sie auch.« Diese letzte Bemerkung war von schneidendem Sarkasmus.
»Ja«, sagte Callandra, nicht weniger spitz. »Das habe ich. Ich fürchte, Sie werden jemand anderen um eine Ansprache an die Schwestern bitten müssen, Mrs. Flaherty. Vielleicht möchte das Lady Ross Gilbert übernehmen. Sie scheint mir sehr fähig.«
»Das ist sie auch«, sagte Mrs. Flaherty bedeutungsvoll. Dann setzte sie sich an ihren Tisch und griff nach dem Federhalter. Callandra war damit entlassen.
So verließ sie denn die Station und ging einen langen schlechtbeleuchteten Flur entlang an einer Frau mit Eimer und Scheuerbürste vorbei; dann an einer zweiten, die in der Ecke lag wie ein Haufen schmutziger Wäsche – bis zur Bewußtlosigkeit betrunken.
Am Ende des Korridors begegneten ihr drei junge Medizinstudenten, die sich, die Köpfe zusammengesteckt und eifrig gestikulierend, unterhielten.
»Er ist so groß«, sagte ein rothaariger Junge und hielt ihnen die geballte Faust hin. »Sir Herbert wird ihn herausschneiden. Ich danke Gott dafür, heute leben zu dürfen. Denken Sie doch mal, wie hoffnungslos das noch vor zwölf Jahren gewesen wäre, vor der Anästhesie. Jetzt, mit Äther oder Lachgas, ist einfach nichts mehr unmöglich!«
»Das Beste seit Harvey und seinem Blutkreislauf«, pflichtete ihm ein anderer enthusiastisch bei. »Mein Großvater war Chirurg bei der Marine. Bei denen mußte noch alles mit einer Flasche Rum, einem Lederknebel und zwei Männern zum Festhalten gehen. Mein Gott, ist die moderne Medizin nicht was Wunderbares! Verdammt, meine Hose ist voller Blut.« Er zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich ab, ohne damit eine Wirkung zu erzielen außer der, daß jetzt auch noch das Taschentuch rote Flecken aufwies.
«Ich weiß nicht, warum Sie Ihre Zeit verschwenden«, meinte der dritte junge Mann mit einem Lächeln für seine Bemühungen. »Sie assistieren doch, oder nicht? Da werden Sie ohnehin wieder naß. Sie hätten nicht den guten Anzug anziehen sollen. Ich mache das nie. Das wird Sie lehren, so eitel zu sein, nur weil es sich um Sir Herbert handelt.«
Sie schubsten einander und rangen im Scherz, nahmen Callandras Gegenwart im Vorübergehen mit einem kurzen Gruß zur Kenntnis und durchquerten schließlich die Halle in Richtung Operationssaal.
Einen Augenblick später trat Sir Herbert Stanhope persönlich durch die mächtige Eichentür. Er sah Callandra und zögerte, als suche er nach ihrem Namen. Er war ein wuchtiger Mann, nicht unbedingt groß, aber stattlich und von imposanter Haltung. Sein Gesicht war auf den ersten Blick ziemlich gewöhnlich: engstehende Augen, scharfe Nase, hohe Stirn und darüber bereits lichtes, sandfarbenes Haar. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte man die Kraft seines Intellekts, seine intensive Konzentrationsfähigkeit.
»Guten Morgen, Lady Callandra«, sagte er mit plötzlicher Befriedigung.
»Guten
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