Im Schatten der Gerechtigkeit
Morgen, Sir Herbert«, antwortete sie mit einem kaum merklichen Lächeln. »Ich bin froh, Sie noch zu sehen, bevor Sie operieren.«
»Ich habe es etwas eilig«, sagte er mit einem Anflug von Irritation. »Mein Stab wird mich bereits im Operationssaal erwarten, und höchstwahrscheinlich trifft auch meine Patientin jeden Augenblick ein.«
»Ich habe eine Beobachtung gemacht, wie man möglicherweise Infektionen bis zu einem gewissen Grad reduzieren könnte«, fuhr sie fort, ohne auf seine Eile zu achten.
»In der Tat«, sagte er skeptisch, eine ungeduldige Falte zwischen den Brauen. »Und was, bitte, haben Sie beobachtet?«
»Ich war eben auf der Station und habe, nicht zum erstenmal, wie ich sagen muß, gesehen, daß eine Schwester einen Fäkalieneimer ohne Deckel durch den Raum trug.«
»Fäkalien lassen sich nun einmal nicht vermeiden, Madam«, sagte er ungeduldig. »Der Mensch scheidet aus, was er nicht braucht, und ist er krank, so ist das Ergebnis häufig nicht besonders angenehm. Außerdem übergibt er sich. Das liegt in der Natur von Krankheit und Heilung.«
Callandra hatte Mühe, ihre Geduld zu wahren. Sie war keine Frau von hitzigem Temperament, aber derart von oben herab behandelt zu werden, war nur schwer zu ertragen.
»Dessen bin ich mir bewußt, Sir Herbert. Aber eben weil es sich um Ausgeschiedenes handelt, sind die Ausdünstungen schädlich und somit wohl besser nicht wieder einzuatmen. Könnte man nicht einfach die Schwestern die Eimer abdecken lassen?«
Irgendwo um die Ecke brach jemand in lautes Lachen aus. Sir Herberts Lippen strafften sich vor Abscheu.
»Haben Sie schon einmal versucht, einer Krankenschwester beizubringen, sich an die Regeln zu halten, Madam?« Er sagte das mit einem Anflug von Humor, aber ohne die geringste Freude daran. »Wie hieß es doch letztes Jahr in der Times. Ich vermag nicht wörtlich zu zitieren, aber es lief in etwa auf folgendes hinaus: Krankenschwestern bekommen Standpauken von Ausschüssen, Predigten vom Kaplan, Kämmerer und Verwalter sehen sie schief an, Oberschwestern zanken sie aus, Operationsassistenten tyrannisieren sie, Patienten meckern sie an und beschimpfen sie; wenn sie alt sind, beleidigt man sie; sind sie mittleren Alters und von angenehmem Wesen, behandelt man sie respektlos; sind sie jung, werden sie verführt.« Er hob seine schmalen Brauen. »Ist es da ein Wunder, wenn sie sind, wie sie sind? Von welcher Art Frau erwartet man denn, daß sie eine solche Arbeit verrichtet?«
»Ich habe den Artikel auch gelesen«, pflichtete sie ihm bei und blieb an seiner Seite, als er sich auf den weiten Weg zum Operationssaal machte. »Sie haben noch vergessen, daß die Chirurgen sie beschimpfen. Das stand auch drin.« Sie ignorierte das kurze Aufflackern in seinen Augen. »Das ist womöglich das beste Argument, eine andere Art Frauen einzustellen und sie wie gelernte Arbeitskräfte zu behandeln und nicht wie das niedrigste Gesinde.«
»Meine liebe Lady Callandra, Sie sagen das, als stünden Hunderte von intelligenten jungen Frauen aus gutem Hause und besten Charakters Schlange für diesen Dienst. Aber seit Glanz und Glorie des Krieges vorbei sind, ist dem bei weitem nicht so.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie müssen sich nur einmal umsehen. Idealistische Tagträume sind gut und schön, aber ich habe mich mit der Wirklichkeit abzugeben. Ich kann nur mit denen arbeiten, die ich habe, und das sind nun mal die Frauen, die Sie hier sehen. Sie schüren die Öfen, leeren die Fäkalieneimer, rollen Bandagen auf. Und solange sie nüchtern sind, sind sie in der Regel sogar ziemlich freundlich zu den Kranken.«
Der Kämmerer des Krankenhauses kam an ihnen vorbei, ganz in Schwarz, einen Stapel Kladden unter dem Arm. Er nickte in ihre Richtung, blieb jedoch nicht stehen.
»Aber«, fuhr er fort, noch schroffer als zuvor, »wenn Sie unbedingt Deckel für die Eimer stellen wollen, bitte. Tun Sie, was Sie können, und sorgen Sie dafür, daß man sie auch benutzt. In der Zwischenzeit muß ich mich jedoch im Operationssaal melden, wo jeden Augenblick meine Patientin eintreffen wird. Ich wünsche noch einen guten Tag, Madam.« Und ohne auf ihre Antwort zu warten, durchquerte er die Halle zum Korridor gegenüber.
Callandra war noch nicht wieder zu Atem gekommen, als sie, gestützt von zwei Männern mit gesetzten Mienen, eine Frau mit aschfahlem Gesicht erblickte, die sich unter Schmerzen auf den Korridor zubewegte, in dem Sir Herbert verschwunden war. Offensichtlich
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