Im Schatten der Vergeltung
ich nicht aus, stellte Maureen befriedigt fest. In den Augenwinkeln zeigte sich noch kein Fältchen, und ihre Figur war immer noch schlank und an den richtigen Stellen gerundet. Um sich die Wartezeit, bis Frederica endlich wieder herunterkam, zu vertreiben, blätterte sie ohne großes Interesse die Post durch. Plötzlich blieb ihr Blick blieb an einem schlichten weißen Kuvert hängen. Sie schnappte nach Luft, und es war, als hätte ihr jemand eine Faust in den Magen gerammt.
Maureen Trenance, Trenance Cove, Cornwall, England stand in gerader, schnörkelloser Schrift auf dem Umschlag. Maureen schien es, als stünde sie plötzlich neben sich, als hätte sich ihre Seele von ihrem Körper gelöst und sie beobachtete sich selbst, wie ihre Hand den Brief umklammerte. Vor ihren Augen wurden die Buchstaben immer größer, brannten sich in ihren Kopf wie glühendes Eisen, bis Maureen nichts anderes um sich herum mehr wahrnahm als diesen Brief. Sie kannte diese Schrift, hatte sie oft genug gesehen, auch wenn viele Jahre seit dem letzten Mal vergangen waren. Wie eine Marionette stieg sie die Treppe hinauf, den Umschlag in ihren verkrampften Fingern. Auf dem ersten Absatz begegnete sie Frederica, die Schultern nun unter einem Tuch sittsam verborgen, aber Maureen bemerkte es nicht. Mit starrem Blick ging sie einfach an ihrer Tochter vorbei.
»Mama?« Frederica erschrak über den sonderbaren Ausdruck in Maureens Augen. In einer solchen Verfassung hatte sie ihre Mutter nie zuvor gesehen. »Fühlst du dich nicht wohl?«
Maureen antwortete nicht. In ihrem Kopf hämmerte nur ein einziger Gedanke: Warum jetzt? Warum heute?
Erst, als sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war sie in der Lage, mit zitternden Fingern den Umschlag umzudrehen und einen Blick auf den Absender zu werfen, diese Bestätigung hätte es aber nicht mehr gebraucht, um zu wissen, wer ihr geschrieben hatte. Es wunderte sie nur, dass der Brief in Edinburgh aufgegeben worden war.
»Mach ihn auf!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Langsam wurde sie ruhiger, ihre Hände zitterten weniger. Gleichzeitig jagte ein Schauer nach dem anderen über ihren Rücken.
»Nein!«, rief eine andere, lautere Stimme. »Nicht nach all den Jahren! Wirf ihn ins Feuer!«
Der warme Sommertag, an dem die Sonne durchs Fenster schien und helle Kringel auf dem kostbaren Teppich malte, schien zu verschwinden und Maureen wurde in die Vergangenheit katapultiert. Die Erinnerungen überwältigten sie und sie sank zu Boden, den Brief immer noch ungeöffnet in den Händen. Sie fühlte sich wie in ein anderes Land in eine andere Zeit versetzt, weit fort von der ländlichen, sommerwarmen Idylle Cornwalls. Es war Winter und, als wäre sie eine stumme Beobachterin, sah sie ein junges Mädchen, das vor Kälte bibberte und versuchte, sich mit einer fadenscheinigen Decke notdürftig zu wärmen. Dieses Mädchen war sie, vor vielen, vielen Jahren. Sie hatte die meiste Zeit des Jahres gefroren, denn selbst die Sommer in Schottland waren kurz und regnerisch. Es war Maureen, als könne sie den groben Stoff der Wolldecke auf ihren Schultern spüren. Durch die Ritzen der Bodenbretter, auf denen sie kauerte, hörte sie das Schnauben der Pferde, roch den unverwechselbaren Duft nach Heu, den sie liebte und der sie seit ihrer Geburt umgab. Roslach wieherte leise und stampfte mit ihren kleinen Hufen. Maureen liebte die Fuchsstute. Sie hatte mithelfen dürfen, als Roslach geboren wurde und hatte das junge Pferd geduldig und mit viel Geschick zugeritten. Nun würde die Stute jedoch verkauft werden. Die Vorstellung, sich von Roslach zu trennen, schmerzte Maureen, sie konnte jedoch nichts daran ändern. Das Pferd gehörte dem Laird, der damit machen konnte, was er wollte. Maureens winzige Kammer über den Stallungen war nicht mehr als ein Bretterverschlag, wie auch der danebenliegende Raum, in dem ihre Eltern ihr Lager hatten. Jetzt im Winter, wenn die Landschaft tief verschneit und die Bäche gefroren waren, hatte das einen großen Vorteil: Die Wärme der Tiere stieg nach oben, und machte die Kälte etwas erträglicher, denn die Kammern verfügten über keine Feuerstellen. Die Menschen hier im Glen Livet waren oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten, denn der Schnee lag hoch in den Highlands. Auf Beechgrove war für die Wintermonate gut vorgesorgt worden. Die Ernte war in diesem Jahr reichlich ausgefallen und die Lagerräume bis zum Rand gefüllt, so musste niemand Hunger leiden.
Maureen
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