Im Schatten der Vergeltung
über das Kuvert, als wäre es ein kostbarer Schatz.
»Was schreibt sie?«, fragte Philipp knapp.
»Ich ... ich habe den Brief noch nicht geöffnet.«
Philipp nahm ihr den Umschlag aus der Hand und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.
»Warum meldet sie sich nach so langer Zeit?«
»Ich weiß es nicht. Der Brief kommt aus Edinburgh. Das wundert mich, meine Eltern haben die Stadt immer gehasst und wären niemals freiwillig dorthin gezogen.«
»Es ist sehr viel Zeit vergangen, Maureen«, gab Philipp zu bedenken. »Wir sollten ihn öffnen.« Als er Anstalten machte, das Kuvert aufzureißen, nahm Maureen den Brief schnell wieder an sich.
»Ich möchte das tun. Und ich will dabei allein sein.«
»Aber Lady Esther …«
Aufgeregt stieß Maureen hervor: »Lady Esther kann mir gestohlen bleiben. Ich halte hier eine Nachricht meiner Mutter in den Händen – die erste nach über siebzehn Jahren! Das ist ja wohl wichtiger als das alberne Gartenfest. Ich möchte den Brief in Ruhe lesen, und fürchte gleichzeitig den Inhalt. Alles andere ist mir gleichgültig. Kannst du das nicht verstehen?«
Philipp schüttelte den Kopf, er war jetzt ebenfalls besorgt.
»Es werden schlechte Nachrichten sein. Warum sonst sollte deine Mutter dir schreiben? Du lebst seit langer Zeit in Cornwall und hast mit deinen Eltern nicht das Geringste zu tun. Sie waren es schließlich, die den Kontakt abgebrochen haben. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Wirf den Brief ins Feuer und lass die Vergangenheit ruhen! Du hast schließlich Jahre gebraucht, sie zu vergessen.«
Maureen schüttelte so heftig den Kopf, dass sich die Locken unter dem Hut lösten und auf ihre Schultern fielen.
»Ich habe niemals vergessen! Ein Teil von mir ist immer in Schottland geblieben.«
»Du hast nie darüber gesprochen«, warf Philipp erstaunt ein. »Ich dachte immer, du möchtest weder an Schottland noch an deine Eltern erinnert werden.«
Maureen lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln.
»Es gibt Situationen, mit denen man sich abfinden muss, weil man keine andere Wahl hat. Es wäre müßig gewesen, unentwegt über Begebenheiten nachzugrübeln, an denen ich nichts ändern kann. Als ich an deiner Seite Schottland verließ, haben mich meine Eltern verstoßen. Trotzdem habe ich immer an sie gedacht und mich gefragt, wie es ihnen geht und ob sie gesund sind.«
Philipp sah seine Frau fest in die Augen.
»Du weißt selbst, dass es besser für dich ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Mit Lady Esthers Hilfe bist du ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft geworden. Maureen, du bist keine Schottin mehr, sondern eine Engländerin, und dich verbindet nichts, aber auch gar nichts mehr mit deinen Eltern oder mit Schottland.«
»Weil ich dazu gezwungen wurde, meine Herkunft zu verleugnen, all die Jahre hindurch, bis zum heutigen Tag«, erwiderte Maureen heftig, auf ihren Wangen bildeten sich hektische rote Flecken. »Ja, du und die göttliche Esther habt ganze Arbeit geleistet und alles Schottische in mir erstickt. Aus dem armen Mädchen, der Tochter eines Kutschers, musste eine Lady werden, die den Erwartungen deiner Nachbarn entspricht.« Sie presste beide Hände an die Schläfen und senkte den Kopf. »Und die ich niemals sein werde.«
Maureen wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Sie hing doch an ihrem Leben in Trenance Cove. Sie, eine einfache Magd, war in die Welt des Adels aufgestiegen, was kaum jemandem aus ihrer Gesellschaftsschicht je gelang. Dabei war ihr dies niemals wichtig gewesen, sie wollte einzig und allein an der Seite des geliebten Mannes sein. Für ihn hatte sie sich bemüht, sämtliche Konventionen des Landadels zu lernen und nach ihnen zu leben. Nun holte der Brief ihrer Mutter all das, was sie seit Jahren unterdrückt hatte, mit Macht hervor, und Maureen besaß keine Kraft, die Erinnerungen länger zur Seite zu schieben oder gar zu ignorieren.
»Du bist ungerecht, und das weißt du auch! Die hiesige Gesellschaft hätte niemals eine Schottin in ihren Reihen geduldet. Und die Reaktion meines Vaters wird dir ja wohl noch gut in Erinnerung sein. Nur mit knapper Not entging ich einer Enterbung.«
Die Erinnerung an den Tag, als Philipp sie nach Trenance Cove gebracht hatte, war auch heute noch bitter. Den alten Sir Trenance traf beinahe der Schlag, als sein Sohn mit einer Ehefrau aus der Armee heimkehrte. Nicht nur die Tatsache, dass er es gewagt hatte, ohne väterliche Zustimmung zu heiraten, sondern dass die Auserwählte weder adliger
Weitere Kostenlose Bücher