Im Schatten der Vergeltung
abfallenden Felsen thronte.
»Sind wir jetzt endlich da?«, fragte sie. »Mir ist kalt und ich habe Hunger.«
Seit drei Stunden regnete es nicht mehr, der Himmel war aber immer noch mit dicken dunklen Wolken bedeckt, und der Wind war kalt. Je weiter die kleine Reisegruppe nach Norden gekommen war, desto seltener hatte sich die Sonne am Himmel blicken lassen, und der Regen war zu ihrem täglichen Begleiter geworden.
Nach zuerst heftigem Widerstand hatte Frederica schließlich die Reise in eine ihr unbekannte Welt dann doch mit gespannter Erwartung angetreten. Bereits am zweiten Tag hatten jedoch der Regen, die Stürme und die teilweise unzumutbaren Unterkünfte ihr jede Freude verdorben, und es verging kein Tag, an dem Frederica nicht mit einem trotzigen Unterton sagte: »Wäre ich doch nur zu Hause geblieben!«
Maureen reagierte gelassen auf die Launen ihrer Tochter. Ihre innerliche Anspannung wuchs von Meile zu Meile. Es war eine Mischung aus Vorfreude und Angst. Was würde sie in Edinburgh erwarten? In welcher Verfassung würde sie ihre Eltern antreffen? Lebte ihr Vater überhaupt noch, und wie würde ihre Mutter auf das unverhoffte Wiedersehen reagieren?
Nach einer Nacht, in der Maureen und Philipp hin und her diskutiert hatten, hatte Philipp schließlich zugestimmt, Maureen nach Schottland zu begleiten. Widerwillig zwar, aber er wusste, dass Maureen tatsächlich ohne ihn reisen würde. Das würde einen unglaublichen Skandal bedeuten, den Philipp unter allen Umständen verhindern musste. So war es das kleinere Übel, wenn sich die ganze Familie auf die Reise begab. Philipp bestand darauf, bereits im Vorfeld eine geeignete Bleibe in Edinburgh zu suchen, auf keinen Fall wollte er in einer fremden Stadt ankommen und nicht wissen, wo seine Familie wohnen würde. Als junger Mann war er mit seinem Regiment einige Wochen in Edinburgh stationiert gewesen, kannte daher die Zustände in der überfüllten Stadt, die wie ein zerrupftes Krähennest auf dem mächtigen Vulkanfelsen thronte. Philipp erinnerte sich an Sir Gordon, einem Parlamentsmitglied aus London. Vor einiger Zeit hatte Sir Gordon erwähnt, sein neu erbautes Edinburgher Stadthaus würde Freunden jederzeit zur Verfügung stehen. Philipp hoffte auf die Aufrichtigkeit des Angebots, sandte eine Nachricht an Sir Gordon und bat ihn, die Bediensteten über ihre Ankunft zu unterrichten.
»Maureen, steige bitte wieder in die Kutsche, die Burg wird auch morgen noch da sein. Ich bin froh, wenn wir unser Ziel endlich erreicht haben«, sagte Philipp.
Während der verbleibenden Fahrt starrte sie hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. Sie knetete so nervös ihre Finger, dass die Gelenke knackten.
»Sieh mal, das Nor’Loch ist fast völlig verschwunden!«, rief sie und drückte ihre Nase an die Scheibe. »Und da hinten wurde eine Brücke gebaut.«
Endlich rumpelte die Kutsche über das Kopfsteinpflaster der Stadt. Es waren nur flüchtige Eindrücke, die Maureen und Philipp aufnahmen, sie bemerkten aber beide, dass sich die schottische Hauptstadt in den letzten Jahren stark verändert hatte. Im Norden, dort, wo sich früher ein Sumpfgelände befunden hatte, waren neue Straßen und Häuser entstanden. In diesem Gebiet, am Charlotte Square, einem quadratischen Platz, der den eleganten Wohnvierteln in London in nichts nachstand, befand sich auch das Haus von Sir Gordon. Das hohe und schmale Gebäude war im vergangenen Jahr fertig gestellt worden und lag inmitten einer Reihe von gleichartigen herrschaftlichen Wohnhäusern. In der Gesellschaft war es chic geworden, ein Haus in Edinburgh zu besitzen, auch wenn die Reise von Südenglang weit und anstrengend war, und die adligen Engländer nur selten das Land im Norden besuchten. Von den Schotten im Allgemeinen hielt man ohnehin nicht viel, aber Hauptsache, man folgte dem neuesten Trend. Schließlich wollte sich niemand nachsagen lassen, er könne sich kein Stadthaus leisten.
Sie wurden bereits erwartet. Ein livrierter Diener führte Maureen, Philipp und Frederica in eine kleine Eingangshalle, dann sorgte er dafür, dass das Gepäck entladen wurde. Sie schlenderten durch das Haus, das von innen wesentlich geräumiger war, als sein Äußeres vermuten ließ. Im Erdgeschoss befanden sich neben der Halle die Bibliothek und ein kleineres Damenzimmer. Im ersten Obergeschoss lagen das Speisezimmer, der Salon und ein Raum, in den sich die Herren zum Rauchen zurückziehen konnten. Im nächsten Stockwerk waren drei Schlafzimmer,
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