Im Schatten der Vergeltung
eine Lady am frühen Abend allein durch die Altstadt spazierte. Sie gaben ihr aber in einem breiten, schottischen Dialekt bereitwillig Auskunft, und Maureen fand problemlos zur West Bow. Die steile, enge und mit hohen Häusern gesäumte Straße zog sich vom Lawnmarket, einem Teil der Royal Mile, hinunter zum Grassmarket. Nummer Sieben war ein schmales, fünfstöckiges Gebäude aus grauem Backstein, der an vielen Stellen abbröckelte. In dem dunklen Treppenhaus roch es muffig und nach undefinierbaren Essensdünsten. Maureen zog fröstelnd den dünnen Mantel enger um sich. Sie klopfte an die erste Tür im Erdgeschoss und musste nicht lange warten. So schnell, als hätte die alte, dicke Frau direkt hinter der Tür gelauert, wurde diese geöffnet. Aus der Wohnung schlug Maureen ein grässlicher Gestank nach faulendem Kohl entgegen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und stieß hervor:
»Ich suche Laura Mowat. Sie muss hier im Haus wohnen.«
Die Alte verzog ihr faltiges Gesicht und stieß ein Geräusch aus, das Maureen an das Grunzen eines Schweines erinnerte.
»Wohnt nich mehr hier. Die is fort.«
Die Alte wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Maureen stellte schnell einen Fuß in den Spalt.
»Fort? Was heißt das? Wohin ist sie gegangen?«
Mit einer Gewandtheit, die man ihr nicht zugetraut hätte, machte die Frau einen Schritt auf Maureen zu. Diese traf ein Schwall von übel riechendem Atem. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite.
»Na, weg isse. Hat die Miete nich zahlen können. Bin hier schließlich kein Armenhaus. Hier muss jeder pünktlich zahlen oder verschwinden.«
»Sie wissen doch sicher, wo sie jetzt wohnt, oder?«, fragte Maureen hoffnungsvoll.
»Nee, kümmre mich nich um andre Leute, hab selbst genügend Probleme.«
Eine Welle der Enttäuschung schwappte über Maureen. Sie war so nahe am Ziel gewesen! Wie sollte sie in der großen Stadt nun ihre Eltern finden?
Die Alte musterte sie in dem schwachen Licht der Ölfunzel von oben bis unten, griff dann nach Maureens Mantelärmel. Ihre wurstigen, schmutzigen Finger betasteten den feinen Seidenstoff. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Was will denn ’ne so feine Dame von der Mowat?«
Maureen holte eine Münze aus ihrer Börse und hielt sie der Frau hin.
»Das wird Ihnen die Auskunft, wo Laura Mowat zu finden ist, wert sein, nicht wahr?«
Maureen konnte ihre Hand gar nicht so schnell fortziehen, wie die Alte nach der Münze grapschte und in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ.
»Weiß wirklich nich, wo die Mowat hin is ...«
Wie dumm von mir, dachte Maureen, jetzt hat sie das Geld, und ich bin genauso schlau wie zuvor. Vielleicht wäre sie doch besser mit Philipp hergekommen. Vor einem Mann hätte die Vettel bestimmt mehr Respekt gezeigt. Maureen seufzte und wandte sich ab. Es war sinnlos, sich weiter mit der Frau zu unterhalten, außerdem begann ihr Magen über den widerwärtigen Geruch zu rebellieren.
»Aber sie geht jeden Tag zum Friedhof«, rief die Alte plötzlich.
Maureen drehte sich wieder um. »Wie bitte?«
»Ja, ja. Zumindest hat se das gemacht, als se noch hier wohnte. Jeden Tag! Arme Frau, hat doch ihren Mann dort begraben müssen.«
Maureens Beine begannen so sehr zu zittern, dass sie sich an die Wand lehnen musste – ungeachtet der Tatsache, dass ihr Mantel beschmutzt wurde. Was sie die ganze Fahrt über befürchtet hatte, war zur schrecklichen Gewissheit geworden. Sie war zu spät gekommen! Ihr Vater war tot. Gestorben, ohne dass sie, Maureen, noch einmal mit ihm hatte sprechen können. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und sie kämpfte mit den Tränen.
»Geht’s Ihnen nich gut?« Die Alte kam zögernd näher und griff nach Maureens Arm. »Wolln Se ’nen Becher Wasser?«
Maureen schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Seite.
»Nein, danke. Es geht schon wieder.« Das Letzte, was sie wollte, war, aus einem Gefäß zu trinken, das die Lippen dieser Frau berührt hatten. »Welcher Friedhof?«, brachte sie mühsam hervor.
»Hä?«
»Zu welchem Friedhof geht Mrs Mowat?«
»Aye, Greyfrairs. Aber da könn Se jetzt nich mehr hin. Die Tore schließen bei Dunkelheit.«
Maureen nickte geistesabwesend, ließ die Alte stehen und tastete sich durch den düsteren Flur. Wieder auf der Straße atmete sie tief ein und aus. Auch wenn die Gassen mit Abfall überhäuft waren – gegen die Luft in dem baufälligen Haus roch es hier geradezu paradiesisch.
Dann ging alles sehr schnell. Über ihr
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