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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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Wolke, und wenn ich mich jetzt nicht beeilte, würde ich heute nicht mehr trockenen Fußes nach Hause kommen.
    Also rappelte ich mich umständlich auf und begann meinen langsamen Marsch zurück zum Hotel. Ich wusste, dass ich für den knappen Kilometer bis dorthin an die zwanzig Minuten brauchen würde, und ich glaubte, mich mittlerweile damit abgefunden zu haben. Nur ungern und mit tiefer Wehmut erinnerte ich mich an die Zeit, in der Entfernungen und Geschwindigkeiten für mich keine Rolle gespielt hatten. Damals war die Welt für mich grenzenlos gewesen.
    DAMALS. Das war ein Wort, das ich eigentlich nicht gebrauchen wollte,  und das sich doch viel zu oft in meine Dialoge mit anderen Leuten einschlich. Und noch öfter in die nächtlichen Monologe mit mir selbst.
    Letztere waren allerdings seltener geworden, seit ich diese Pillen nahm. Pillen, die mir ein Arzt verschrieben hatte, dessen Namen ich so schnell vergessen hatte, wie er mir das Rezept ausgestellt hatte. Manche Dinge vergisst man leicht, andere niemals. Und Namen sind sowieso Schall und Rauch. Stimmen dagegen nicht, Geräusche nicht, Licht nicht. Sie brennen sich in das Gedächtnis ein wie ein Feuerfunke in Seidenstoff. Und selbst wenn das Brennen und Glimmen aufgehört hat, bleibt da immer noch das Loch mit den ausgefransten, angekohlten Rändern, das sich nicht sauber zunähen lässt, die zerfetzte Haut an der Wunde, die sich nicht schließen will. Nicht kann. Nicht darf.
    Die Pillen wirkten wie ein Verband, deckten nachts alles zu mit Stille, Schwärze, traumloser Ruhe. Aber sie heilten nicht, denn morgens, wenn der Verband abgenommen wurde, war alles noch da, wie am Abend zuvor, unverändert.
    Mit diesen Gedanken betrat ich das Hotel, nahm von dem kess lächelnden Hotelboy in der Rezeption meinen Zimmerschlüssel und die Nachricht entgegen, dass für mich keine Nachrichten hinterlegt worden waren, fuhr mit dem Lift in den dritten Stock und schloss endlich mein Zimmer auf. Ein süßlicher Geruch nach Kerzenwachs und Blumenparfüm empfing mich - und Einsamkeit. Mit einem gewaltigen Seufzer ließ ich mich in den Sessel am Fenster fallen und lauschte dem Regen, der draußen gegen die Scheibe klatschte.
       
     
       
     
    Dublin, Airport, Mitte Oktober 2001
       
     
    Irland hatte ihn empfangen, wie es passender nicht hätte sein können: mit einem prasselnden Regenschauer, der binnen der wenigen Gehminuten vom Flugzeug zum Shuttlebus seine Jacke völlig  durchweicht hatte.
    Dabei war während des Landeanfluges auf die grüne Insel noch strahlender Sonnenschein gewesen, und über der Halbinsel Houth hatte sich ein wunderschöner Regenbogen gespannt, dessen Farben allein für ihn hätten leuchten können - wenn da nicht um ihn herum eine Maschine voller Menschen gewesen wäre, die sich hektisch, jeder auf seine Art, auf die Landung vorbereiteten: man packte, kramte, faltete und schnaubte. Trotz aller Aufregung und innerer Unsicherheit hatte er den kurzen Flug sehr genossen - im Gegensatz zu dem jungen Pärchen in seiner Sitzreihe, das zum ersten Mal in einem Flieger zu sitzen schien; bei jeder Etappe des terrassenförmigen Sinkfluges, die ihnen in den Bauch fuhr wie bittersüße Limonade, umfasste die kleine Blonde neben ihm die Hand ihres Freundes und schloss die Augen, um danach nervös aufzulachen und dem Typen einen Kuss auf die Wange zu drücken. Einen dieser Momente hatte Johannes genutzt, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, und da hatte er den Regenbogen gesehen. Wie passend.
    Auch für ihn war diese Reise eine neue Erfahrung. Er war noch nie allein unterwegs und so weit fort gewesen, doch genau das machte für ihn den Reiz der Sache aus. Seit einem Jahr war der Plan für diesen Auslandsaufenthalt während des Studiums in ihm gereift, hatte sich aus einer spontanen Idee zu einem dringenden Bedürfnis entwickelt und war nun zu einer Herausforderung geworden, der er sich mehr als bereitwillig stellte.
    Während Johannes forschen Schrittes durch die Gänge und Hallen des Flughafengebäudes zur Gepäckausgabe ging, spürte er schon die Vorfreude auf sein Studium an der Dublin City University mit ihrem modernen Campus und den vielen Forschungsprojekten, die er kennenlernen und vielleicht sogar eines davon würde begleiten können. Eine Welle der Dankbarkeit durchflutete ihn: für Josefine, die ihm bei den Vorbereitungen geholfen und seine Englischkenntnisse auf den aktuellsten Stand gebracht hatte; für die Eltern, die - auf Josefines

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