Im Schatten des Drachen
den Boden, ließen die Holzdielen knarren, Stuhlbeine quietschen. Stimmen surrten durch den Raum, vermischt mit dem Zischen des Zapfhahnes und dem Klingen der Gläser, wenn angestoßen wurde. Verwirrt lauschte ich den Gesprächen: von amerikanischem Englisch über Spanisch, Deutsch und sogar Italienisch wurde hier alles gesprochen, nur kein Irisch. Offenbar war ich in einem der unzähligen Touristenpubs gelandet. Aber eigentlich war es mir gleich, solange meine Kehle nur etwas zu trinken und meine Augen etwas zu beobachten bekamen. Lange musste ich nicht warten.
Es ging auf zehn zu, als sich plötzlich aller Aufmerksamkeit von den Tischen, Gläsern und der Bar weg und auf die mir gegenüberliegende Ecke des Pubs richtete, wo ich schon vor geraumer Zeit Mikrofone hatte stehen sehen. Ein Plakat an der Eingangstür hatte mir bereits beim Betreten des Pubs den Auftritt einer Live-Band angekündigt, und jetzt, da es offenbar losging, verspürte auch ich ein wenig Neugier und Lust auf die Klänge dieses Landes. Ich bestellte mir noch ein Guinness und wartete ab, was weiter geschah.
Die drei Musiker kamen aus einem Nebenraum, den ich von meiner Ecke aus bisher nicht wahrgenommen hatte. Sie waren lässig gekleidet in Jeans und bunt karierten Hemden. Der eine trug Hosenträger darüber, die er schnippen ließ, bevor er seine Flöte an die Lippen setzte. Der andere hatte einen Hut auf und schlug einen kurzen Trommelwirbel auf seinem Bodhrán. Der dumpfe und doch melodische Klang dieses Instruments faszinierte mich. Doch der Anblick des dritten Musikers raubte mir fast den Atem: er war es, auch ohne grünen Parka erkannte ich ihn sofort an seinem leuchtend roten Lockenkranz. In seiner linken Hand hielt er Geige und Bogen.
Ich saß da wie elektrisiert, unfähig, mich zu bewegen, besorgt, dass er mich sehen könnte und gleichzeitig voll unbändigem Verlangen, dass er es doch täte. Aber das war eigentlich nicht möglich, denn ich saß in einer relativ dunklen Ecke und hinter vielleicht fünfzig anderen klatschenden und pfeifenden Pubbesuchern, die die Musiker begrüßten.
Er trat an das vordere Mikrofon, begrüßte die Gäste in breitestem irischen Akzent und legte dann in einer unglaublich graziösen Bewegung seine Geige ans Kinn. In diesem Moment fiel sein Blick doch auf mich. Auch er musste mich sofort erkannt haben, denn ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Da war keine Überraschung, kein Erstaunen, sondern einfach pure Freude darüber, dass die Dinge so waren, wie sie waren, und ich hier war. Mit einer nur minimalen Verzögerung gab er seiner Band den Einsatz, und im nächsten Moment nahm mich ihre Musik gefangen.
Während ich seinem Spiel lauschte, beobachtete ich ihn ungeniert. Als Publikum konnte ich mir das leisten. Seine schlanke Gestalt wiegte sich im Takt der Musik, sein Kopf lehnte leicht auf dem Instrument, und wie eine Feder schien der Bogen die Saiten zu streicheln, während die Finger der linken Hand beim Greifen verspielt über den hölzernen Hals tanzten. Er machte nicht nur Musik, er liebte sie, und er liebte offenbar sein Instrument, dem er mit unendlicher Zärtlichkeit die Töne entlockte, die mich augenblicklich davontrugen: hinaus in die weiten, sanften Hügel Irlands, über die wogenden Grasweiden mit den weißen Schafstupfern, durch pittoreske Dörfer mit leuchtend bunten Häusern und bis weit hinüber zur rauen Westküste mit ihren zerklüfteten Steilklippen. Das alles hatte ich schon einmal gesehen, und jetzt war ich wieder hier. Ich fürchtete die Erinnerungen, die in mir aufsteigen wollten, langsam, unaufhaltsam und erschreckend intensiv trotz all der Zeit, die zwischen dem Damals und dem Heute lag. Gleichzeitig jedoch sehnte ich sie mir herbei, nun, da ich endlich wieder an diesem Ort war, diese Stadt sah und diese Musik hörte.
Der plötzliche Applaus riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte Raum und Zeit verlassen und wurde durch den Lärm nun unsanft in die dunkle Enge des Pubs zurückgeholt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir uns die ganze Zeit über angestarrt hatten. Jeder Ton, den er in der letzten Stunde gespielt hatte, schien allein mir gegolten zu haben, und auch die Ansagen, die komplett an meinem Ohr vorbeigerauscht waren, hatte er mir direkt ins Gesicht gesprochen. Auch jetzt ruhte sein Blick auf mir, während er das Finale ankündigte, die Gäste auf die bevorstehende Sperrstunde hinwies und damit zur letzten Bestellung aufrief.
Eigentlich hatte ich spätestens um diese
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