Im Schatten des Drachen
Klangfärbung, die Johannes das Gefühl von Vertrautheit und Fremde zugleich vermittelte und sein Interesse weckte.
„Das war aber ein übler Sturz. Mann, manchmal können einen die Girls schon ganz schön aus der Bahn werfen, was?“
„Tja, wem sagst du das?“ Der Smalltalk tat gut, lenkte von den Schmerzen ab, half über die Peinlichkeit der Schwäche hinweg. Aber er verlief in die falsche Richtung, und das verursachte andere Schmerzen, machte die eigene Schwäche umso deutlicher. Johannes wünschte sich, die blauen Augen würden sich einfach im Blau des Himmels über ihm auflösen - dann würde er wenigstens nicht in ihnen ertrinken müssen.
Einen Augenblick lang wusste keiner von ihnen so richtig weiter, dann fragten sie beide gleichzeitig:„Bist du alleine hier?“
Ihr beider Lachen darauf klang befreit, erleichtert, richtig echt. Der Typ mit den blauen Augen antwortete schließlich als erster.
„Nein, ich bin mit ein paar Freunden da. Die sind ... irgendwo da drüben.“ Er wedelte mit der Hand unbestimmt in irgendeine Richtung. „Und was ist mit dir? Wo sind deine Leute?“
„Ich bin alleine hier.“
Wieder Schweigen. Die Unsicherheit stand zwischen ihnen wie die Dampfwolken ihrer beider Atem. Die Stimme des anderen schlug endlich die erste Brücke zwischen ihnen.
„Lass uns doch ein paar Runden zusammen drehen, hättest du Lust?“
Johannes nickte erleichtert: „Okay. Wie heißt du eigentlich?“
„Marc. Und du?“
„Johannes. Aber die meisten nennen mich nur Jo.“ Es war nicht üblich, diesen Teil seines Namens englisch auszusprechen.
Während er seine Schlittschuhe neu zuband, sinnierte Marc: „Johannes ... - du kommst aus Deutschland, stimmt’s? Ich auch, naja, zur Hälfte zumindest. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Spanier. Sieht man ja auch irgendwie. Ich bin über die Universidad de Malaga hierhergekommen. Austauschprogramm, ist bei dir wahrscheinlich nicht anders ...“
Dieser unbefangene Redeschwall war für Johannes anstrengend und erleichternd zugleich. Ihm war nun klar, warum Marcs Erscheinung ihn sowohl anzog als auch befremdete. Allerdings wurde die Anziehungskraft mit jedem Wort des anderen größer, und er drohte schon wieder aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Marc plauderte derweilen weiter.
„Jo - das ist cool. Kurz und prägnant. Ist sowieso ´ne coole Idee, diese Schlittschuhbahn mitten auf dem Campus. Es ist als Kennlernparty für die neuen Semester gedacht. Na, zumindest bei uns hat es funktioniert!“ Und dann mit einem verschmitzten Seitenblick aus den aufreizend blauen Augen über roterhitzten Wangen: „Na los, Jo, dann machen wir jetzt ein bisschen Speed!“
Damit drehte Marc eine kleine Pirouette und holte Schwung. Johannes folgte ihm, und dabei war er sich ganz sicher, dass sein Herz nicht allein von diesem unerwarteten Sprint fast zum Zerspringen klopfte.
Dublin, Temple Bar, 02. September 2007
Unser zweites Zusammentreffen war so ungeplant und überraschend wie das erste. Vielleicht hätte es mich auch nicht überraschen müssen, denn was geschehen soll, geschieht, egal, ob wir etwas dafür oder dagegen tun.
Ich saß in einem der unzähligen Pubs in Temple Bar, Dublins buntestem Kneipenviertel, drehte mein Guinnesglas in den Händen, während ich im Spiegel des Tresens die Leute hinter mir beobachtete. Ich war sehr früh als einer der ersten Gäste hier eingetroffen, hatte deshalb die freie Platzwahl gehabt und mich für einen Hocker am linken seitlichen Flügel der Bar entschieden, wo ich vor den Blicken der anderen Besucher geschützt war und dennoch mittels des Spiegels einen guten Überblick über das Geschehen im Raum und die Neuankömmlinge an der Tür hatte.
Der Pub war urig und fantasievoll zugleich eingerichtet, auch wenn er sich darin von den meisten Pubs der Stadt nicht unterschied: dunkles, schweres Holz, an der Bar Regale voller Flaschen mit bunten Etiketten und mehr oder weniger geheimnisvoll schimmerndem Inhalt. An den Wänden luden lederbezogene Sofas zum Darin-Versinken ein, und kleine Kerzenflammen wiesen den Weg durch das Tischlabyrinth. An den Wänden hingen die verschiedensten Kunstfotos: spärlich bekleidete Frauen der fünfziger Jahre mit rauchenden Zigarrillos in den behandschuhten Händen; vergilbte braun-weiß-Fotos von stolzen Herren neben einst bestimmt modernen Fahrzeugen. Offenbar hatte der Inhaber in Großvaters Erbtruhe herumgestöbert.
Immer mehr Füße scharrten über
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