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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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er mit seinem schlanken Zeigefinger direkt auf mich.
    Mein Blick blieb an dem Finger haften, für eine kleine Ewigkeit, wie mir schien, und zu meinem eigenen Schrecken hörte ich mich das Unwahrscheinlichste flüstern, dass ich freiwillig hätte sagen wollen: „Du hast schöne Hände. Ich habe sie beobachtet, während du spieltest. Das sah sehr anmutig aus, elegant. Richtige Klavierhände.“
       
     
       
     
    Dublin, im Dezember 2001
       
     
    Mit einigem Erstaunen betrachtete Johannes das Notenheft, das da vor ihm auf dem Küchentisch ihrer gemeinsamen Wohnung lag. Es waren offenbar Klaviernoten. Auf der Rückseite las er Namen wie Tschaikowski, Bach und Mozart, die sogar ihm noch aus dem Schulmusikunterricht bekannt waren. Die anderen Komponisten kannte er nicht, und das Notenbild im Inneren des Heftes war für ihn nicht mehr als ein undurchdringbares Gewirr von senkrechten Linien an schwarzen und weißen Kugeln, die sich dicht an dicht zwischen dicken Querbalken drängten. Nur den Kringel am Anfang jeder Zeile erkannte er als Notenschlüssel wieder. Es hatte ihn schon immer fasziniert, wie aus diesen wortlosen Texten im Kopf der Hörer eine Geschichte entstehen konnte.
    Schließlich rief er in Richtung Badezimmertür: „Ich wusste gar nicht, dass du Klavier spielst?!“
    Marc kam aus dem Bad, ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, mit einem anderen rubbelte er sich das schwarze Haar trocken. Er grinste schelmisch.
    „Du weißt so einiges von mir noch nicht. Aber das meiste wird sich in unserer WG garantiert nicht verheimlichen lassen.“
    Mit einem vieldeutigen Blick drehte er sich um und angelte sich ein Glas aus dem Küchenschrank, wobei er offenbar nicht im geringsten befürchtete, dass das Badetuch um seine Hüften sich lösen und Johannes ein weiteres Geheimnis offenbaren könnte - eines, das zu entdecken seinen neuen Mitbewohner mehr als reizte. Doch noch etwas anderes fesselte Johannes’ Aufmerksamkeit, lenkte seinen Blick auf Marcs nackten Oberarm. Darauf war ein kleiner Drache tätowiert. Beinahe schien es, als würde sich das Tier im Spiel der Muskeln bewegen. Dieser Anblick machte Johannes beinahe noch mehr an als die Vorstellung eines fallenden Badetuchs, und er vergrub seinen Blick rasch wieder im Notenheft. Manche Geheimnisse blieben besser unentdeckt.
    Marcs Klavierspiel allerdings schien nicht dazu zu gehören, denn noch am selben Abend saßen sie gemeinsam im „Whelan’s“ ,wo Marc während der Vorweihnachtszeit  zur dezenten Unterhaltung der Gäste auf dem Klavier Hintergrundmusik spielte. Überall im Pub brannten Kerzen, über der Tür und der Bar hingen Mistelzweige, und die besinnliche Vorfreude spiegelte sich nicht nur in den Gesichtern der Pubbesucher wieder, sondern auch in Marcs abgewetzter Baskenmütze - die er von seinem Großvater bekommen hatte, wie er immer wieder stolz betonte -, die jeden Abend schwer vom Trinkgeld war.
    Marc spielte nicht nur Weihnachtslieder; sein Repertoire umfasste von Klassik bis Moderne alles, was sich auf dem Klavier spielen ließ, wobei ihm Jazz und Blues regelrecht im Blut zu liegen schienen. Kein Stück, dem er nicht noch eine entsprechende Improvisation hinzufügte. Den Leuten im Pub schien es zu gefallen, und als sich die Tische gegen elf langsam leerten, zog sich Johannes einen Hocker neben Marcs Klavierschemel, um dessen Finger auf der Tastatur genauer zu beobachten.
    Es faszinierte ihn, wie flink diese schlanken Finger über die Klaviatur flogen, wie elegant sie mal auf Schwarz und mal auf Weiß sprangen, um die Tasten dann mit übermütigem Schwung oder sanfter Zärtlichkeit niederzudrücken. In seinem Kopf war längst ein dicht gewebter Teppich aus Tönen und Intervallen entstanden. Die Mathematik in ihm analysierte die Passagen auf eine ganz andere Art, als vielleicht ein Musiker es getan hätte, ließ ihn die Logik in Rhythmus und Melodik auf eine eigene Weise erkennen. Dennoch spürte er die Harmonie zwischen den Tönen und die Aussagekraft jedes einzelnen Werkes, das Marc interpretierte.
    Schließlich ließ Marc die schlanken Hände sinken und blickte zu ihm herüber.
    „Lass uns mal was zusammen spielen.“
    Johannes schrak zurück. „Besser nicht, ich kann das doch überhaupt nicht.“
    Dennoch hatte er nach wenigen Minuten eine einfache Melodie gelernt - ‚Somewhere over the rainbow’, ein Klassiker, wie gerade für ihn ausgesucht - die er nun immer und immer wiederholte, während Marc die Begleitung improvisierte, und

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