Im Schatten des Elefanten
stets in Erwartung eines Unbekannten, der kommen und uns etwas anderes erzählen möge. Etwas anderes bedeutet den »Rest«, und gerade den Rest brauchen wir am dringendsten: er fehlt uns.
Also weiter, du Unbekannter! Auch unsere Kleinen hören dir zu, und selbst meine Mutter wartet darauf, daß du ihr – über das hinaus, was sie schon selber weiß – zu deuten vermöchtest, was mein Großvater und was sie selber ist, – ihr Leben, ihr Alter, ihre eigene starke Verausgabung, was an Eigenem süß und bitter auf die Zunge ihr kommt, und den Hunger, den sie hat, den Hunger, den sie sieht.
»Ist’s denn nicht beinahe kalt?« sagt er. Er wendet seinen Blick zur Küchentür, die hinter ihm nach dem Wäldchen hin sperrweit auf ist, aber er will nicht, daß meine Mutter aufsteht und sie zumacht. »Das ist es nicht«, sagt er. »Seit ich aufgewacht bin, friere ich etwas, und das geht nicht vorbei. Das ist eine Angelegenheit von mir. *s ist weiter nichts.« Jedenfalls spricht er davon. Und er spricht davon in der Gewißheit, daß wir ihm zuhören, – als wolle er damit die Möglichkeit andeuten, daß wir ihn lange frieren lassen werden, wenn wir ihn lange hier bei uns behalten.
»Nein«, sagt er zu meiner Mutter, »Ich möchte nicht stören.«
Meine Mutter hat zugemacht, und er sagt, am besten wärme man sich inwendig. Seinem Reden nach möchte er Wein haben. Möchte warm sein, gestärkt; und dann allerdings reden. »Leute, die essen, haben es nicht gern, daß einer, der nichts ißt, etwa ein Gläschen trinkt. Sie heißen ihn Säufer. Doch was kümmert das uns?« Er winkt dem Ältesten von unsren Kleinen. »Dürfe ich ihm einen Aufrag geben?« fragt er.
Wie zuvor, sucht er in seinen Innentaschen herum, aus denen er die Sardelle hervorgeholt hat, und er legt eine Handvoll Zehn-Lire-Scheine auf den Tisch, – alsdann noch zwei bis drei weitere Scheine. »Ihr müßt mich nur machen lassen«, sagt er. »Ich weiß wohl, daß ich in eurem Hause bin, doch bin ich auch wie im eigenen. Nicht ohne Grund kam ich heute morgen hier herein. Ich fror und friere noch, und da ich nun mit euch ins Gespräch gekommen bin, werde ich euch den Sachverhalt erzählen … Ich hätte es doch einmal sagen müssen. Es ist nur meine Geschichte, und nach mir ist keiner da, der sie genau so erzählen könnte. Darf ich nun dem Jungen einen Aufrag geben?«
Mit den Knöcheln zweier Finger nähert er sich der Wange unseres Kleinen. Möchte ihn so bei der Wange erwischen. »Eisige Finger habe ich aber«, sagt er zu ihm. Und er fragt ihn, wie er heißt, – fragt ihn auch, ob er gerne geröstete Kastanien ißt. »Ihr müßt mich nur machen lassen«, sagt er zu meiner Mutter. »Ich hatte mir vorgenommen, wenn ich eines Tages zum Erzählen käme, – so wollte ich meine letzten Lohngroschen ausgeben, um die zu bewirten, die mir dann zuhören. Nun habe ich begonnen, und ihr hört mir zu. Aber gestatten müßt ihr, daß ich mich wärme. Erlaubt ihr es mir?«
Er weist die Zehn-Lire-Scheine vor, die er aufeinandergelegt hat. Weitere fünf oder sechs hat er hervorgeholt, ein dicker Pack ist’s, etwa fünfzig, und er teilt sie gerade in Bündel ein. Weist sie dem Mann meiner Mutter.
»Nachher könnte ich doch nichts mehr damit anfangen, und so werde ich einmal in guter Gesellschaf heiße Maronen gegessen und Wein getrunken haben, – in meinem ganzen Leben ein beispielloser Fall. Eßt ihr alle gern heiße Maronen? Eine kleine Feierlichkeit unter Leuten, zu denen ich spräche, ist der Wunsch gewesen, den ich nie zu erfüllen vermochte. Gleichsam eine Art von Gelübde. Und soll ich es nicht halten? In der Welt, die mir erreichbar ist, habe ich weder Kinder noch Enkelkinder. Von keinem Verwandten weiß ich, wo er ist. Auch von der Liebe, die ich empfand, weiß ich nicht, wo sie ist. Die Frau, – ich habe sie verloren, und zwei Töchter, die habe ich in Australien, wie ich etwa am Himmel meinen Stern habe.
Aber das ist nicht die Geschichte, mit der ich hier begonnen habe. Nur muß das auch gesagt werden. Wenn wir endlich einmal anfangen, dann erzählen wir, und gerade beim Erzählen kommen wir, durch Dinge wie diese, nach und nach auf die eigentliche Geschichte. Also heiße Maronen … Ißt der Herr hier heiße Maronen gern?«
Er mißt unseren Alten mit den Blicken, guckt ihm in die Suppenschüssel, alsdann zählen uns seine Augen, und er entscheidet, man brauche für zweihundert Lire Maronen. Angesichts seines ungemein offenen Lächelns sagen wir
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