Im Schatten des Feuerbaums: Roman
auf sich achtgeben, Niña. Hier im Hafen gibt es viel übles Gesindel – nach dem großen Erdbeben noch mehr als früher. Ein hübsches Mädchen, ganz allein, gerät schnell in Gefahr …«
Er redete noch weiter, aber sie hörte ihm nicht mehr zu. Kaum hatte sie die Tasche an sich gepresst, ging ihr auf, dass sie erneut ihre Zeichnungen verloren hatte. Als sie dem Dieb nachgelaufen war, hatte sie die Mappe irgendwo fallen gelassen, und wahrscheinlich hatte der Wind sie abermals in sämtliche Himmelsrichtungen verstreut.
»O nein!«, rief sie entsetzt. Sofort lief sie, ohne sich zu bedanken, in Richtung Hafen los. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie inmitten der Menschenmassen einen Mann über ihren Zeichnungen hocken sah. Er hatte sie nicht nur eingesammelt, sondern musterte sie konzentriert und sah auch dann nicht auf, als sie ihn keuchend erreichte.
»Gut … richtig gut …«, hörte sie ihn murmeln.
Erst jetzt hob er den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Wieder schien die Welt stillzustehen, diesmal nicht, weil böse Erinnerungen sie quälten und erstarren ließen, sondern weil ein schlichter Gedanke sie überwältigte:
Das ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe.
Nicht nur sie stand reglos, auch der Fremde hatte sich erhoben und starrte sie an. Er hielt die Zeichnungen zwar fest umklammert, aber achtete nicht länger auf sie. Vorsichtig machte er einen Schritt auf sie zu und blieb stehen, als würde eine zu abrupte Bewegung die Magie dieses Augenblicks zerstören. Sie wusste, nein, fühlte plötzlich, dass er dasselbe dachte wie sie: Das ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Wobei es nicht nur ihr beider Aussehen war, was sie für schön befanden, ihre zarte Gestalt und seine schlanke, ihre runden Wangen und seine hohe Stirn, ihr glänzendes, glattes Haar und sein braun gewelltes, ihre kohlschwarzen Augen und seine strahlend blauen. Nein, Schönheit meinte, dass sie noch nie so vollkommen im Anblick eines anderen versunken waren, dass sie das Gefühl hatten, sie wären ganz allein auf der Welt und wären sich selbst genug, um sich für immer geborgen und zu Hause zu fühlen.
Aurelia schluckte rauh, kehrte aber für ihr Gefühl viel zu rasch in die Wirklichkeit zurück, als sich ihr Retter neben ihr räusperte. »Geht es Ihnen gut, Niña? Sind Sie verletzt?«
Wie traumwandlerisch drehte sie sich um, um erstmals auch den anderen zu mustern, wenn auch ungleich oberflächlicher. Ob der schön war oder nicht, vermochte sie nicht zu sagen, nur dass er elegant gekleidet war. »Es ist …«, setzte sie bebend an.
Der andere war näher gekommen, und erst jetzt ging ihr auf, dass die beiden sich kannten und gemeinsam unterwegs gewesen waren. »Stell dir vor, Tiago«, rief ihr Retter, »dieser sittenlose Mann wollte doch einfach die Niña bestehlen und …«
Die restlichen Worte versanken in einem Rauschen.
Tiago.
Er hieß Tiago.
Ihre Lippen formten den Namen nach. Während ihr Retter prahlte, wie er den Dieb in die Flucht geschlagen hatte, überreichte Tiago ihr die Zeichnungen. Aurelia nahm sie mit schweißnassen, zitternden Händen entgegen.
»Hast du das gezeichnet?«
Er hatte sie unwillkürlich geduzt – keine Kränkung oder Anmaßung, wie ihr schien, eher eine tiefe Selbstverständlichkeit. Erneut wurde sie blind für die restliche Welt, versank in den Anblick seiner hellen Augen, des Lächelns um den fein geschwungenen Mund, der aristokratischen Nase. Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen, denn er war um vieles größer als sie.
»Ja, das habe ich …«, stammelte sie.
Sie brach ab, nicht sicher, ob jemals wieder etwas Vernünftiges aus ihrem Mund kommen würde. »Aber das sind nur …«, versuchte sie es wieder und konnte den Satz abermals nicht zu Ende bringen.
»Das ist das Beste, was ich seit langem gesehen habe«, erklärte er, und seine Stimme klang – anders als ihre – fest. »Du hast eine genaue Beobachtungsgabe, aber verlierst dich nicht in unnütze Details. Und die Ölmalereien … die Art, den Pinsel zu führen, erinnert mich an die großen Impressionisten. Woher hast du nur diese Farben? Selten habe ich so viele Nuancen an Braun- und Gelbtönen wahrgenommen.«
Sie konnte nur lächeln und wäre wohl noch ewig stumm vor ihm stehen geblieben, wenn sich ihr Retter nicht erneut eingemischt hätte. »Tiago, wir müssen nun los. Unser Zug fährt schon in einer Stunde ab …«
Der Mann hatte ihn am Arm gepackt,
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