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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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ins Bett zwangen, und erlag schließlich unerwartet einer Lungenentzündung. Nur wenige Wochen nach seinem Tod war Victorias Mutter Emilia an Typhus gestorben. Als der Brief aus Valparaíso eintraf, der die traurigen Nachrichten überbrachte, hatte Aurelia ihre Mutter Rita zum ersten Mal weinen gesehen – und das über Tage. Gleiche Trauer hatte sie eigentlich in diesem Haus erwartet, doch Elvira und Ludwig waren nur voller Ärger über Victoria, und Victoria selbst … wo war Victoria?
    Jemand klopfte, und Aurelia fuhr auf. Doch es war nur das Hausmädchen, das etwas zu essen gebracht hatte, ein Stück Kuchen und ein Glas Portwein.
    »Wohin genau ist Victoria eigentlich gegangen?«, fragte Aurelia.
    Das Mädchen wich der Frage aus. »Wenn sie diesmal heimkommt, wird es gewiss eine ordentliche Strafe setzen«, erklärte sie nicht ohne Befriedigung.
    Aurelia war noch verwirrter, aber geistesgegenwärtig genug, um das Mädchen zu fragen, welches der Zimmer das von Victoria sei. Die gab ihr freimütig Auskunft, wobei Aurelia nicht sicher war, warum. Weil sie sie für vertrauenswürdig hielt? Oder weil sie sich Victoria gegenüber nicht zu Verschwiegenheit verpflichtet fühlte?
    Hastig aß Aurelia ihren Kuchen und nahm einen Schluck von dem Wein, der ihr heiß ins Gesicht stieg. Dann trat sie auf den Gang, vernahm von unten immer noch Gemurmel und öffnete schließlich die Tür zu Victorias Zimmer. Auch dieser Raum war sehr elegant eingerichtet. Vor den großen, hohen Fenstern hingen schwere, purpurfarbene Vorhänge. Kunstvolle Schnitzereien schmückten das breite Himmelbett und ein Schränkchen daneben, auf dem Fotografien standen. Aurelia musterte sie neugierig, erkannte Arthur und Emilia, aber auch ihre Mutter Rita und ihren Stiefvater Balthasar.
    Was ihre Aufmerksamkeit jedoch ungleich mehr anzog, waren die vielen Bücher im Zimmer. Sie standen nicht nur in Regalen, sondern lagen übereinandergestapelt auf dem Schreibtisch – und es waren mehr, als Aurelia je auf einem Fleck gesehen hatte. Auf der Estancia gab es Geschäftsbücher, einige englische Romane und die Missionarszeitschriften, mehr aber nicht.
    Nicht nur wegen der vielen Bücher herrschte auf dem Schreibtisch Unordnung. Auch viele Briefe lagen durcheinander. Aurelia wollte nicht neugierig sein, aber las dennoch die Zeile von einem. »Sehr aufschlussreich, was man darin zum Krankheitsbild erfährt.«
    Aurelia runzelte die Stirn, umso mehr, als sie den Namen der Absenderin sah: eine Nora van Sweeten aus Hamburg. Wer das wohl war? Und vor allem: Von welcher Krankheit war da die Rede?
    Gleich neben dem Brief lag ein Buch mit schwerem, jedoch abgegriffenem Ledereinband. Es musste oft gelesen worden sein. Aurelia schlug es auf und las einen Absatz, den sie kaum verstand: »An die zuerst abgelagerte tuberculöse Materie schließt allmählich von außen mehr und mehr Tuberkelstoff an; der Tuberkel wächst durch Apposition von außen, und auf diese Weise entstehen aus Tuberkelmolekülen nach und nach größere, aus concentrisch aneinander gelegten Schichten bestehende Tuberkelmassen.«
    Offenbar war es ein medizinisches Fachbuch, und in dieser Abhandlung ging es um eine gefürchtete Krankheit, die Lungenkrankheit oder Schwindsucht, an der so viele Menschen starben. Aber warum las Victoria so ein Buch? Ihre Mutter war doch an Typhus gestorben, nicht an Schwindsucht! War sie womöglich selber krank? Aber dann wären Elvira und Ludwig Kreutz doch nicht so böse auf sie!
    Aurelia sah sich weitere Bücher an. Eines davon schien nicht das Geringste mit Krankheiten zu tun zu haben. Der Autor hieß John Stuart Mill, das Buch selbst trug den merkwürdigen Titel Die Hörigkeit der Frau, und übersetzt worden war es von einer gewissen Martina Barros. Ein weiterer Brief lag daneben – offenbar einer, den Victoria geschrieben, aber bis jetzt noch nicht fertiggestellt und abgesendet hatte: Ich habe Mill nun endlich gelesen, und ich verstehe, warum sein Buch als die Bibel der Frauenbewegung gilt, denn …
    Aurelia zuckte zusammen und blickte hoch. Ein Luftzug hatte sie erfasst und wirbelte ihre Haare durcheinander. Sie hörte ein Knacksen der schweren Eichendielen, rechnete damit, von Elvira ertappt worden zu sein, und überlegte, wie sie sich dafür rechtfertigen sollte, dass sie heimlich in Victorias Sachen stöberte. Aber als sie zur Tür sah, stellte sie fest, dass diese verschlossen war und folglich niemand die Treppe hochgekommen war. Wer immer das Zimmer betreten

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