Im Schatten des Feuerbaums: Roman
um ihn sanft mit sich zu ziehen. Tiago merkte es gar nicht, sondern blieb stehen.
»Du solltest diese Bilder auf der Escuela de Bellas Artes zeigen«, sagte er.
Eben noch war ihr Geist wie ausgehöhlt gewesen. Der Klang dieses Wortes rührte jedoch an einen Traum, den Aurelia seit Jahren hegte. Die Escuela de Bellas Artes war die Kunsthochschule in Chiles Hauptstadt Santiago, dem dortigen Museum angeschlossen und aus der Academia de Pintura hervorgegangen. Ihr Stiefvater hatte ihr davon erzählt, und seit sie das erste Mal gehört hatte, dass es einen Ort gab, wo Menschen nichts anderes taten, als den lieben langen Tag die Malerei oder die Bildhauerei zu erlernen und zu verfeinern, war dies ihr heimlicher, wenn auch unerreichbar scheinender Sehnsuchtsort gewesen.
»Pedro Lira ist im Moment der Leiter«, fuhr Tiago fort, »ich kenne ihn gut, ich kann dafür sorgen, dass du ihm vorgestellt wirst.«
»Tiago … unser Zug!«
Immer noch ließ er sich von seinem Gefährten nicht zur Eile drängen, sondern blickte sie erwartungsvoll an.
Aurelia rang nach Worten, doch ehe sie etwas sagen konnte – dass sein Angebot sie ungemein freute, aber dass sie doch gewiss nicht gut genug malte, um einen Pedro Lira zu beeindrucken –, hörte sie, wie jemand laut ihren Namen rief. Die Welt – eben noch geschrumpft auf das Plätzchen, auf dem sie mit Tiago stand – wurde wieder groß und laut. Die Stimme klang kreischend.
»Aurelia? Aurelia Hoffmann?«
Ein Mann und eine Frau kamen auf sie zugelaufen – es war die Frau, die kreischte, während der Mann in ihrem Schlepptau ziemlich mürrisch dreinblickte. Das mussten Elvira und Ludwig Kreutz sein, ging Aurelia durch den Kopf. Die beiden führten nach den tragischen Todesfällen die Apotheke von Arthur Hoffmann in Valparaíso und kümmerten sich um Victoria. Aurelia blickte sich um, denn sie hatte erwartet, dass auch diese zum Hafen kommen würde, um sie abzuholen, doch weit und breit war nichts von einem sechzehnjährigen Mädchen zu sehen.
»Gott sei Dank!«, stieß Elvira mit ihrer kreischenden Stimme aus. »Endlich haben wir dich gefunden! Diese Menschenmassen sind ja nicht auszuhalten! Und wie siehst du nur aus, Kind?«
Aurelia begriff kurz nicht, was sie meinte, dann fuhren ihre Hände instinktiv zu dem Hut, der nach wie vor verrutscht war, und den offenen Haaren, die wild im Wind wehten.
Elvira packte sie an der Hand. »Komm schnell mit zur Kutsche.«
Drei Schritte folgte sie ihr willig, dann drehte sie sich um und suchte Tiagos Blick. Auch der wurde von seinem ungeduldigen Freund mit sich gezogen. »Der Zug, Tiago, der Zug wartet nicht auf uns!«
Diesmal folgte er ihm, wenn auch widerstrebend, rief ihr jedoch aus der wachsenden Entfernung noch etwas zu: »Deine Bilder! Du solltest sie wirklich jemandem zeigen, der etwas davon versteht … die Escuela de Bellas Artes … ich bin selbst dort …«
Seine Worte wurden vom Lärm übertönt, den Rufen von Lastenträgern, den quietschenden Rädern der Fuhrwerke, dem Rauschen des nahen Ozeans und wieder Elviras kreischender Stimme, als die beklagte, wie lange sie sie hätten suchen müssen. Die vielen Menschen verstellten ihr schließlich den Blick auf Tiagos hochgewachsene Gestalt.
»Warte!«, hätte Aurelia am liebsten gerufen, tat es jedoch nicht. Wie hätte sie dem Ehepaar Kreutz auch ihr Interesse an dem Fremden erklären können, wie den Wunsch, ihn noch so vieles zu fragen, wer er war, wie sein Nachname lautete, warum er etwas von ihren Zeichnungen verstand?
»Gottlob haben wir dich sofort erkannt«, kreischte ihr Elvira ins Ohr. »Nur wenige junge Frauen reisten auf dem Schiff. Ich hielt es ja für keine gute Idee, dass deine Eltern dich ganz allein herschicken, auf einer solch gefahrvollen Reise kann viel Unbill geschehen. Aber nun gut, jetzt bist du hier, und das ist nicht das Schlechteste. Wir machen uns große Sorgen um Victoria. Vielleicht kannst du sie ja endlich zur Vernunft bringen.«
Aurelia stolperte über die unebenen Pflastersteine. Ludwig Kreutz hatte ihr wortlos die Tasche abgenommen, die Mappe mit den Zeichnungen aber umklammerte sie selbst. Sie wurde taub für Elviras anstrengende Stimme, während sie wieder und wieder seinen Namen murmelte.
Tiago …
Die Fahrt mit der Cerro-Kutsche, die sie zum Haus der Hoffmanns bringen sollte, geriet immer wieder ins Stocken. Im Stadtkern herrschte ähnliches Gewühl wie am Hafen, und während Ludwig Kreutz weiterhin missmutig schwieg, erklärte
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