Im Schatten des Galgens Kommiss
für alle Vorfälle zuständig war, ihre Räume.
Schon das Treiben und Hasten ließ den erfahrenen Yard-Officer erkennen, daß es mal wieder in der vergangenen Nacht irgendwo geraucht hatte. Gleichzeitig fiel dem jungen Kommissar aber auch das am Vorabend mit seinem Kollegen vom Nachtdienst geführte Gespräch ein. Was hatte sich Inspektor Keeton noch bei Antritt seines Nachtdienstes so sehnlich gewünscht: Eine einigermaßen ruhige Nacht, damit er endlich mal all den Papierkram erledigen konnte, der ihm langsam über den Kopf hinaus wuchs.
By gosh, daraus dürfte wohl wieder einmal nichts geworden sein, ging es Kommissar Morry mitfühlend durch den Sinn — und schon hatte er die Tür des Zimmers erreicht, hinter der er seinen Freund Ernest Keeton wußte.
„Splendid, es ist gut, einen Freund zu haben", empfing ihn der in Hemdsärmel und gelöster Krawatte hinter einem Berg von Akten hockende Inspektor. Sein Gesichtsausdruck war nicht gerade freundlich zu bezeichnen, als er Kommissar Morry begrüßte und mit schiefem Lächeln orakelte: „Dabei frage ich mich wieder einmal mehr, welcher Teufel uns beide wohl geritten haben mag, daß er uns freiwillig Yard-men werden ließ?"
Kommissar Morry kannte nur zu gut diesen Ausspruch seines Kollegen, den dieser immer dann vom Stapel ließ, wenn er irgendwie mit seiner Arbeit nicht voll zufrieden war. Darum ließ er diese Frage auch unerörtert und erkundigte sich, was seinen Freund so verdrießlich gemacht habe.
„Eigentlich habe ich gar keinen Grund, unzufrieden mit den augenblicklichen Ermittlungsergebnissen zu sein", begann Inspektor Ernest Keeton von den Ereignissen der letzten Nacht zu sprechen. „Dennoch bin ich überzeugt davon, daß meine Recherchen irgendwo eine Lücke aufweisen. Und darüber möchte ich jetzt mit dir sprechen. Aber damit du dir ein Bild von der Sache machen kannst, werde ich ganz von vorn anfangen..."
„Einen Augenblick, Ernest", unterbrach Kommissar Morry seinen Kollegen, der bereits zu einer der auf seinem Schreibtisch liegenden Akte greifen wollte, um an Hand der sich schon darin befindlichen Schriftstücke seine Tätigkeit der letzten Nacht zu rekonstruieren. „Ich will nur eben meine Boys verständigen, daß ich mich hier bei dir befinde. Dann werde ich Zeit haben, deine Ausführungen zu hören."
Es war wieder einmal typisch Morry. Obwohl ihn doch die Arbeit seines Kollegen in dieser Phase dienstlich nicht das geringste anging, nahm er sich trotz der Anhäufung von Arbeit, die sein eigenes Sonderdezernat zu bewältigen hatte, doch soviel Zeit, um seinem Kollegen mit seinem Wissen zur Seite zu stehen. Daß man ihn zu Rate zog, bewies wieder einmal mehr, wie sehr ihn seine Kollegen schätzten und welchen Wert sie auf seine Meinung in den betreffenden Fällen legten. Darum aber war Kommissar Morry keineswegs hochnäsig geworden.
No, er war und blieb der Mann, der von allen geachtet und geschätzt wurde. Ohne großes Pathos konnte man von Kommissar Morry behaupten, daß er von seinen Freunden geachtet und von seinen Feinden gefürchtet wurde. Dieser Mann, der zu den gnadenlosesten Verfechtern des Rechts gehörte, legte nun, nachdem er nur wenige Sekunden mit seinem Dezernat gesprochen hatte, den Hörer auf die Gabel zurück — und während er sich seinem Kollegen gegenübersetzte, begann Inspektor Keeton mit seinem Bericht: „Die Vorgeschichte ist die: Kaum eine Stunde, nachdem wir uns gestern getrennt hatten, erhielt ich vom Informationsraum die Nachricht, daß ein Streifenwagen unten am Limehouse-Pier einen Toten aufgefunden hatte. Alle Anzeichen deuteten auf einen gemeinen Mord hin. Bis hierhin also nichts Außergewöhnliches. Die Nachrichten, die uns dann auf der Fahrt zum Tatort hin erreichten, ließen uns aufhorchen und den Fall schon etwas geheimnisvoller werden. Ein angeblicher Tatzeuge hatte sich telefonisch beim Informationsraum gemeldet und angegeben, daß er und der von ihm verfolgte Täter sich auf der Trinidad-Station befänden. Doch bevor unser Sprecher sich nach dem Namen des Zeugen erkundigen konnte, hatte der Mann von der Station wieder aufgelegt. Das also vor unserem Eintreffen am Tatort."
Ohne seinen Kollegen auch nur ein einziges Mal unterbrochen zu haben, hatte Kommissar Morry zugehört. Auch jetzt, da Inspektor Keeton ihn fragend anschaute, verhielt er sich reglos. Seinen Oberkörper lässig gegen die Stuhllehne gelehnt, die Augen wie träumerisch gegen die gegenüberliegende Wand gerichtet, wirkte er für
Weitere Kostenlose Bücher