Im Schatten des Galgens Kommiss
Leute, die ihn nicht kannten, wie ein gelangweilter Besucher. Doch dem war nicht so!
Jede Einzelheit Inspektor Keetons Bericht haftete sich unauslöschlich in seinem Hirn fest. Gleichzeitig aber begann er schon beim Zuhören Unwichtigkeiten von Kernstücken des Falles zu trennen. So war Kommissar Morry schon damit beschäftigt, den mysteriösen Anruf des Fremden auf seine wahre Bedeutung hin zu prüfen.
Inspektor Ernest Keeton fuhr jedoch, da er seinen Zuhörer auch in dieser Beziehung kannte, mit eintöniger Stimme fort: „Was die Crew des Streifenwagens schon nach ihrer ersten oberflächlichen Untersuchung festgestellt hatte, konnten wir nur bestätigen. Das Opfer, ein erst am Vortage hier in unserer Stadt mit einem Schiff angekommener Chink, dessen Name Tschu Ly-Chuang lautet, war durch drei Schüsse, von denen jeder einzelne tödlich war, hier meuchlings niedergestreckt worden. Die Schußkanäle liegen so, daß der Mann von vorn erschossen worden ist . . . Die Routinearbeit am Tatort ist dir ja genügend bekannt. Darum will ich mich damit nicht länger aufhalten. Was aber wiederum sonderbar ist, ist ein zweiter Anruf des vermeintlichen Tatzeugen. Dieser zweite Anruf kam ebenfalls von einer Station der Underground- Railways. Diesmal rief der Unbekannte von der Whitechapel-Station an und gab dem Informationsraum eine etwaige Beschreibung des Täters. Auch hier kam unser Mann nicht mehr dazu, sich den Namen des Anrufers aufzuschreiben. Er hatte zwar zu Beginn des Gespräches einen Namen gehört. Doch so undeutlich, daß er ihn nicht verstehen konnte..."
„Und als er den Anrufer nach seinem Namen fragen wollte, war die Leitung wieder unterbrochen", ergänzte Kommissar Morry die Worte seines Kollegen...
„Well, so war es!"
Kommissar Morrys Gedanken verweilten nur einen winzigen Augenblick bei dieser sonderbaren Tatsache, daß der Anrufer, der sich scheinbar sehr für den Täter interessierte, es vorgezogen hatte, seinen Namen nicht zu nennen. Noch legte er sich nicht hundertprozentig auf eine endgültige Meinung hierüber fest. Zu viele Gründe konnte der Fremde haben, daß er seinen Namen nicht genannt hatte. Und wenn er einen Namen gesagt hätte, brauchte dieser ja auch nicht zu stimmen.
Dagegen konnte auch der Police-Boy hier im Headquarter einen unbeabsichtigten Fehler begangen haben. Wie es auch sein mochte: ob nun beabsichtigt oder nicht, der Anrufer war bis zur Stunde noch ein ungeklärtes Fragezeichen. Und wenn dieser Mann ein Unbekannter bleiben wollte, war es so gut wie hoffnungslos, ihn je ausfindig zu machen.
In diesem Punkte war darum für Kommissar Morry Skepsis geboten.
Doch den gleichen Argwohn schien auch Inspektor Keeton zu haben, denn schon äußerte er sich dahingehend: „Es will mir einfach nicht in den Kopf hinein, daß dieser Bursche bis jetzt noch nicht hier aufgekreuzt ist. Damn't, wer sich doch so sehr für die Ergreifung des Mörders einsetzt, daß er ihn selbst verfolgt, müßte sich doch denken können, daß wir an seinen Aussagen interessiert sind."
„Shure, Ernest", bestätigte Kommissar Morry die Worte seines Kollegen.
„So denken wir — und vielleicht auch Tausende von besonnenen Bürgern unserer Stadt. Aber was sich die für uns augenblicklich wichtigste Person denkt, wissen wir leider nicht. Sie deswegen zu verdammen, wäre aber noch verfrüht. Lassen wir somit diese Frage offen. Erzähl, wie es weiter ging, Ernest?"
Einen Augenblick brauchte Inspektor Keeton, um sich zu konzentrieren. Dann berichtete er, welche Schritte er nach Bekanntwerden der Beschreibung des Täters unternommen hatte: „Zunächst einmal machten wir das Schiff aus, mit dem das Opfer hier in der Stadt eingetroffen ist. Dann fuhren wir hinaus zum West-India-Pier. Der Kahn, wie auch der Kapitän des Schiffes, mit dem das Opfer dieser Nacht hier in London eingetroffen war, sahen verdammt nicht vertrauenerweckend aus. Darum fühlten wir dem zunächst zum Beißen aufgelegten Schiffseigner sogleich gehörig auf den Zahn. Erst wollte er nicht mit der Sprache heraus. Doch der gemeine Mord an einem Boy seiner Besatzung löste ihm langsam die Zunge. Während dieses Verhörs erfuhren wir, daß die Beschreibung, die unser bekannte Anrufer gegeben hatte, auf einen Mann paßte, den er bis vor zwei Tagen als Steuermann auf seinem Pott beschäftigt hatte. Natürlich war dieser alte Fuchs von der Susanne, so nennt sich der schäbige Kahn, fest davon überzeugt, daß sein ehemaliger Steuermann nichts mit diesem
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