Im Schatten des Galgens Kommiss
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Mit Anbruch der vollkommenen Dunkelheit begann auch gleichzeitig die letzte Stunde im Leben Tschu Ly-Chuangs . . .
Er ahnte nichts von den unheilvollen Wolken, die sich über seinem Haupte zwischenzeitlich zusammengezogen hatten.
„Tschu, wenn Mister Embroke sich auch gestern Abend nicht sehr freundlich dir gegenüber gezeigt hat, so mußt du ihm doch folgen und ihm weiterhin beistehen. Er braucht dich bestimmt!"
Diese, und noch andere Worte hatte Nafty Castello seinem Besatzungsmitglied gesagt, als dieser mit dem Zettel bei dem Kapitän der Susanne aufgekreuzt war.
Nur anfänglich war Tschu Ly-Chuang etwas verärgert über das Benehmen des einstigen Steuermanns am Vorabend gewesen. Dann aber war er bereit, mit Jean Embroke — so glaubte er jedenfalls — zur angegebenen Zeit am Limehouse-Pier zusammenzutreffen. Selbst die vom Kapitän der Susanne angebotene Begleitung eines weiteren Besatzungsmitgliedes hatte er abgelehnt.
„Wenn ich gehe, dann gehe ich auch allein. So habe ich auf keinen anderen, als auf mich selbst zu achten", hatte Tschu Ly-Chuang entschieden . . .
Nun fehlten noch dreißig Minuten bis acht — und der Todeskandidat Tschu Ly-Chuang rüstete zum Aufbruch. Nachdem er sich nur mit einem neuen Messer bewaffnet hatte, tauchte ein gleitender Schatten vom Fallreep herab — und verschwand in der Nacht. Tschu Ly-Chuangs letzter Weg begann. Fast geräuschlos schlich der Gelbe durch den Nebel. Wo überall er auch seine Augen hinwarf, nirgends war ein verdächtiger Schatten zu sehen. Keine Menschenseele schien ihn zu verfolgen. Und dennoch!
Schon seit seinem Verlassen der Susanne war er beobachtet worden. Aber der Mann, der diese Aufgabe durchgeführt hatte, war nicht so dumm, um den Weg zu Fuß bis zum Limehouse-Pier zurückzulegen. Er hatte nur drei Minuten danach gewartet, dann war er zur West-Ferry-Road gerannt — und ein dort abgestellter Wagen hatte ihn zusammen mit Mike Callinger zum kommenden Ort des Geschehens gebracht. Mike Callinger wußte nun, daß die von ihm gestellte Falle erfolgreich zuschnappen würde.
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Und die Todesfalle trat in Aktion, als Tschu Ly-Chuang von der Emmet-Street kommend zum Limehouse-Pier einbog. Dicht an die Wände der Lagerhäuser gedrückt, näherte er sich dem dumpf gurgelnden, dunklen Wasser des Flusses.
Mit jedem Schritt, den er vorsichtig tat, kam er aber auch einer kreisrunden, gefährlichen Öffnung, die direkt auf seine Brust gerichtet war, näher. Noch fünf Schritte trennten Tschu Ly-Chuang von dem Manne, der in seiner Linken die Waffe hielt, deren heiße Projektile sich nun aus unfehlbarer Distanz in seinen Körper einbohrten. Nur einmal sah Tschu Ly-Chuang das grelle Aufblitzen vor seinen Augen. Dann fühlte er nur noch, wie etwas Glühendes sich in sein Fleisch einfraß. Instinktiv fuhr seine Hand zum Gürtel hin, wo sein Messer steckte. Doch schon auf halbem Wege fiel seine Hand kraftlos wieder zurück.
Ein Dröhnen erfüllte seinen ganzen Körper. Stieg, als ihn ein zweiter Schlag herumwirbelte, zu einem Orkan an. Dann riß auch sein Denkvermögen ab . . . Tschu Ly-Chuang fühlte schon nicht mehr die Schmerzen, die ein weiteres Geschoß in seinem Körper hervorrief. Er merkte auch nicht mehr, daß seine Knie einknickten . . .
Tschu Ly-Chuang war bereits tot, als seine Gestalt auf dem Boden aufschlug — in die schmutzige Gosse rollte — und dort liegenblieb.
Unter den grellen Blitzen der in Sten Sett- looms linker Hand befindlichen Waffe hatte ein Mensch sein Leben ausgehaucht. Eine ruchlose Tat war von einem Mann durchgeführt worden, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sich auf diese Weise an dem Widersacher der vorigen Nacht zu rächen. Trotz — oder gerade wegen seiner noch schmerzenden Rechten hatte Sten Settloom sein Ziel um keinen Millimeter verfehlt.
Nun nahm sich der Mörder noch soviel Zeit, um sich von seiner Untat zu überzeugen.
Befriedigt nickte er vor sich hin — und wenige Augenblicke später konnte er Mike Callinger, der ihn in seinem Wagen aufnahm, melden; „Erledigt!"
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Als Kommissar Morry am folgenden Morgen kurz vor acht Uhr das ehrwürdige Gebäude von New Scotland Yard betrat und zu seinen in der 1. Etage gelegenen Räumen des Sonderdezernats hinaufsteigen wollte, glich der Paterregang einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Hier unten zu ebener Erde hatte die Mordkommission, sowie die alltäglich mit anderen Beamten besetzte Kriminalwache, die nach dem allgemeinen Dienstschluß
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