Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
hängen. Remigius zerrte an seiner Kukulle und stopfte sie wieder zurück. Er schien nach einer Antwort zu suchen, die er nicht hinausbrüllen musste. Ulrich hatte ihn selten so ratlos und erschüttert gesehen.
»Es war ein Licht wie vom Antlitz eines Engels«, erklärte Emmeran und deutete zur Decke der Kapelle. »Es kam von da und richtete sich direkt auf mich, und ich vernahm ein Singen …«
»Wozu brauchen wir diesen Schädel, ehrwürdiger Vater?«, hörte Ulrich sich plötzlich sagen. »Wir beten zu Jesus Christus am Kreuz, nicht zu einem alten Knochen.«
Fredegar und Remigius sahen Ulrich an. Dieser kam sich plötzlich wie ein Knabe vor, der sich in eine Unterhaltung mischt, die er nicht verstanden hat. »Unsere Gemeinschaft braucht ihn«, erklärte der Prior schließlich mit einem Unterton der Resignation. »Wir tragen die Regeln von Citeaux zwar in unseren Köpfen, aber in unseren Herzen sind sie noch nicht angekommen, wie Fredegar zweifellos bald unserem Mutterkloster berichten muss.«
Fredegar verzog das Gesicht.
Ulrich warf die Hände in die Luft. »Es kann nicht sein«, rief er, »dass unsere Gemeinschaft davon abhängt, ob ein Jahrhunderte alter Totenkopf sein Gebiss aus seinem Kästchen herausbleckt! Wenn doch, haben wir ein größeres Problem als einen verschwundenen Schädel.«
»Ulrich …«
»Ehrwürdiger Vater, verstehe mich nicht falsch, aber wovon reden wir denn? Wir haben das Zeugnis, das uns von Sankt Albos heiligem Leben überliefert ist. Wir haben den Brunnen in unserem Garten, den er hat emporsprudeln lassen, als die Heiden ihn verfolgten. Wir haben unsere schöne Gemeinschaft, und wir haben nun auch die heiligen Regeln der Zisterzienser, die im Übrigen sagen, es ist Götzenverehrung, wenn …«
»Ich kenne die Regeln von Citeaux!«, sagte Remigius.
»Ist es denn nicht ein Sakrileg, einem Körperteil unseres Heiligen die ewige Ruhe zu verwei…«
»Ich glaube, ich habe das seltsame Licht auch gesehen«, sagte Peter, der Kellermeister.
Emmeran riss die Augen auf. »Nicht auch du, Bruder!«
»Und die himmlischen Chöre vernommen …«
»Stimmen wie Honig und Morgentau!«, sagte Emmeran verzückt.
»Ich hörte, wie ein Engel direkt neben mir …«
»… über deinen Aberglauben fluchte«, sagte Ulrich, der sich aus seiner Argumentationskette gerissen fühlte und seinen Zorn über die beiden Mitbrüder nicht bezähmen konnte.
»Du kannst es nicht wissen, denn du hast es nicht vernommen«, erklärte Peter verträumt.
»Und du wirst zwei Psalmen beten für deine Blasphemie gegenüber einem Engel unseres Herrn«, sagte der Prior. Er räusperte sich und zerrte energisch am Vorderteil seiner Kutte. »Wir können uns nicht einfach damit abfinden, dass die Reliquie verschwunden ist. Mag sein, dass dein Glaube stark genug ist, Bruder Ulrich, aber bei den einfachen Brüdern ist es nicht so. Sie brauchen etwas, woran sie ihren Glauben festmachen können. Du hast doch gesehen, wie Konrad reagiert hat.«
»Wir haben das Kreuz, wir haben die Hostie, wir haben …«
»Engelschöre«, sagte Emmeran. »Stimmen wie Honig und Morgentau!«
»Das ist meine Herde. Lieber nehme ich die Strafe des ehrwürdigen Abts für mein Versagen auf mich und gestehe, dass ich es nicht vermocht habe, meine Schäfchen auf den Weg von Citeaux zu führen … als dass ich zulasse, dass diese Gemeinschaft zerfällt! Wir werden den Schädel wiederbeschaffen, und wenn wir ihn aus den Klauen des Verderbers persönlich reißen müssen.« Remigius zerrte seine Kukulle halb hinter dem Leibstrick hervor. »Wer begibt sich auf diese Pilgerfahrt?«
Schweigen breitete sich aus. Ulrich, der sich wegen Remigius’ Zurechtweisung noch immer wie ein gescholtener Novize fühlte, seufzte innerlich. Das Schweigen zog sich so in die Länge, dass es peinlich wurde. Remigius packte seine Kukulle, schien plötzlich aber keine Kraft mehr zu haben, sie noch weiter herauszuzerren.
»Er ist in den Himmel emporgefahren, ehrwürdiger Vater«, flüsterte Emmeran und lächelte entrückt.
»O Wunder …!«, sekundierte Peter.
Fredegar räusperte sich. »Willst du denn wirklich die Brüder in die sündige Welt schicken, auf der Suche nach Sankt Albos Schädel? Sie werden alle miteinander verderben.«
»Nicht die Brüder«, verbesserte Remigius ihn mit leiser Stimme. »Einen Bruder.«
»Einer? Einer allein ist da draußen verloren. Bedenke doch, wie die Welt heutzutage aussieht: gestrandete, verrohte Heimkehrer von der Pilgerfahrt, Kaiser
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