Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
ich fähig wäre zu töten. Aber ich kann es nicht zulassen, dass du Sammy einfach laufen lässt.« Trotzdem legte er das Messer weg. Er ging zu Kai, nahm ihn aus dem Korb und lehnte sich an die Eiche. »Noch ist Zeit. Doch solltest du daran denken, was es für Kai bedeutet hätte, wenn Sammy ihn in seine Gewalt bekommen hätte.«
Karsten schwieg und setzte sich im Schneidersitz auf den Waldboden. Auch in seinem Gesicht standen Unglaube und Verunsicherung.
Naomi blieb ruhig neben Sammy liegen. Sie legte ihren Kopf auf die Vorderpfoten und dachte nach. Es musste eine andere Lösung geben, als Sammy zu töten. Sie wusste nur nicht, welche Auswirkungen es haben würde, ihn am Leben zu lassen. Darüber musste sie erst nachdenken.
Sammy könnte ihr auch in Menschengestalt gefährlich werden. Würde er einfach verschwinden, wenn sie ihm den Kuss des Vergessens gab? Würde er bei ihm überhaupt funktionieren? Bisher hatte sie nur davon gehört, dass er aus Liebe angewandt worden war. Konnte sie Sammy seinen Hass durch den Kuss vergessen lassen? Einfacher wäre es, ihn zu töten. Doch könnte sie es ertragen, einen wehrlosen Menschen zu töten? Könnte sie mit dieser Schuld leben? Vermutlich nicht. Immer würde sie darüber nachdenken, ob es vielleicht nicht doch einen anderen Ausweg gegeben hätte und sie den einfachsten Weg gegangen wäre. Roman und Karsten konnte sie keine Vorwürfe machen. Sie konnten nicht wissen, dass Naomi mit dieser Schuld vielleicht nicht fertig werden würde. Wie lange hatte sie sich nach diesem Moment gesehnt? Und nun, da sie die Möglichkeit hatte, Sammy endgültig auszulöschen, brachte sie es nicht über sich.
Weder Roman noch Karsten sprachen sie an. Sie saßen etwas abseits und flüsterten leise miteinander, doch Naomi hörte nicht hin. Zu sehr beschäftigte sie sich damit, welche Folgen ihre jetzige Entscheidung hätte.
Sie wollte keinen Mord auf dem Gewissen haben. Dessen war sie sich sicher. Doch konnte sie Sammy vergeben? Würde er sie vielleicht in Frieden lassen, wenn sie ihn jetzt verschonte? Ein kleiner Funken Hoffnung stieg in ihr auf.
Kurz bevor der Morgen graute, setzte sie sich auf. Sie hatte sich entschieden. Roman sprang auf die Beine. Naomi schmiegte sich an seine Beine, warf einen Blick in den Korb und ging zurück zu Sammy.
»Was hast du nun vor?«, flüsterte Roman. »Bitte, lass ihn nicht einfach laufen.«
Naomi blickte Roman lange an, bevor sie den Blick abwandte und sich neben Sammy setzte.
Sie starrte ihn an und formte die Worte im Geiste. »Sammy, trotz allem, was du mir und meiner Familie angetan hast, verzeihe ich dir. Du sollst leben, und du wirst mich und alles, was du über mich weißt vergessen, dafür werde ich sorgen.« Nachdem sie die Worte laut gedacht hatte, drehte sie sich um, ging zu Roman, legte sich zu seinen Füßen und hoffte, der Kuss des Vergessens würde auch bei Sammy wirken.
Plötzlich veränderte sich Sammys Körper. Seine Verletzungen schienen zu heilen. Naomi starrte ihn an und traute ihren Augen kaum. Sammys Fell glänzte silbern im Mondlicht. Angetrocknetes Blut und aufgerissenes Fleisch verschwanden. Seine Gestalt umgab ein gleißendes Licht.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, raunte Karsten.
Naomi spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, als sich das silberne Licht verstärkte und immer heller leuchtete. Es umhüllte Sammys Körper, bis er selbst nicht mehr zu sehen war.
Als das Licht nachließ, lag Sammy vor ihnen; nackt und in Menschengestalt. Seine Wunden waren geheilt, und er schien zu schlafen.
Roman löste sich aus seiner Starre, ging auf Sammy zu und fühlte dessen Puls. »Er lebt.« Er sah zu Naomi. »Was auch immer hier abging ...« Mitten im Satz brach er ab und sah zu Karsten. »Hol das Seil. Nur für den Fall, dass er Schwierigkeiten macht.«
Naomi entfernte sich.
»Wo willst du hin?«, rief Roman.
Es war Zeit, und sie musste zurück auf den Baum. Mit ihren Verletzungen würde sie es in menschlicher Gestalt nie nochmals auf den Baum schaffen. Und sie wollte Sammy keinesfalls nackt gegenübertreten. Sie käme sich dadurch schutzlos vor.
Mit zwei Sätzen erklomm sie den Astkranz, legte sich nieder und wartete, bis die Dunkelheit sie einhüllte.
Als sie wieder zu sich kam, hörte sie Geschrei von der Lichtung. Sie fischte ihre Kleidung von den Ästen und warf sie, zusammen mit den Turnschuhen, den Baum hinunter. Anschließend sprang sie hinterher, schlüpfte in ihre Kleidung und eilte zurück auf die
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