Im Schatten des Ringes
nicht unterlassen, die besten Argumente für meine Theorie vorzubringen. „Es ist an der Zeit, diesen Unsinn über die Sklaven zu beenden! Wenn sie etwas sehen, was sie nicht benennen können, dann sollten die Menschen herauszufinden versuchen, was es ist. Akadem hat wissenschaftliche Untersuchungen angestellt, um die Vermutung, die Welt sei rund, zu beweisen. Es ist ein reiner Zufall, daß unser Ansehen dem Aberglauben der Sklaven Glaubwürdigkeit verliehen hat. Wenn jedoch diese Expedition mithilft, das Geheimnis um die Herkunft der Sklaven zu lüften und die gläubigen Bürger zum Schweigen zu bringen, die durch die Ähnlichkeit der beiden Standpunkte verunsichert werden, haben wir viel gewonnen.“
Tarana unterdrückte ein wütendes Knurren und beugte sich vor, um etwas zu flüstern; die Akoluthinnen drängten sich lauschend zu ihr heran. „Ich habe Bürger davon reden gehört, daß Flammenhüter das Feuer über die Himmelsbrücke trägt und es für die Dauer des Winters am anderen Ende niederlegt … um die Hitze von uns fernzuhalten, nehme ich an, und um in den Bergen für reichlichen Schneefall zu sorgen.“ Tarana fletschte die Zähne und blickte zu den Zelten der Sklaven hinüber, um sich zu versichern, daß sich keiner von ihnen in Hörweite befand, dann fuhr sie fort: „Glauben die etwa, er balancierte die Glut auf seinen Schultern oder gar seinem Kopf?“
Diese Beleidigung war so subtil, daß dumme Sklaven hätten annehmen können, daß sie sich auf Kosten eines Gottes einen Witz erlaubt hatte. Oder flüsterte sie nur deshalb, weil sie vor den Sklaven nicht über die anscheinend begrenzte Allmacht der Götter reden und diese dadurch bloßstellen wollte?
Ich lächelte verständnisvoll. „Natürlich gibt es, falls es wirklich einen Wechsel des Feuers von einem Quadranten der Himmelsbrücke zum anderen geben sollte, weitaus einleuchtendere Erklärungen, in welcher Weise Flammenhüter das Feuer bewegt, anstatt es zu tragen“, sagte ich. Tarana konnte ihre Verwirrung kaum verbergen, doch es war am Ende Chel, der die nächste Frage aussprach.
„Wie denn?“
Ich zuckte die Achseln. „Er könnte es mit seiner Gotteskraft durch den Himmel schleudern, aber vielleicht schwenkt er es auch mit einem Korb hinüber, der an einem Seil hängt. Damit schließe ich, wie es sich gehört, meine Vermutungen über die Aktivitäten der Götter ab und suche nicht weiter nach einer Antwort“, erklärte ich. Ich nickte Tarana zu und senkte demütig meinen Kopf, damit niemand mein verhaltenes Grinsen sehen konnte.
Tarana richtete sich auf, streckte sich, und ihre Begleiterinnen lehnten sich ebenfalls zurück. „Nun, wir haben jetzt nicht die Zeit, weitere Spekulationen zu verfolgen. Prinz Chel wird daheim zur Verteidigung des Reiches benötigt, und mein Platz ist an seiner Seite.“ Sie lächelte Chel an und schien nicht zu wissen, daß auch ich gewisse Verpflichtungen in der Stadt hatte. Das war typisch für den Neid der Hüterin auf Akadem, Neid auf familiäre Loyalitäten und sogar auf körperliche Liebe. Tarana hatte derartiges niemals kennengelernt und war daher auch nicht bereit, diese Erscheinungen anzuerkennen. Sie war der lebende Beweis dafür, daß auch wir manchmal noch blinder sein können als Sklaven in tiefster Nacht. Die Arroganz der Ignoranz, oh, wie sehr ich die verabscheute! Ich wußte genau, daß meine Sehnsucht nach einem Zeitpunkt, an dem sich alle zwischen Baltsar und mir aufgebauten Probleme regeln würden, nur zu echt, zu aufrichtig war. Wäre es dann nicht möglich, daß auch die Visionen der Sklaven, so unverständlich sie uns auch erscheinen mußten, nicht weniger real sein könnten? Wer hatte überhaupt schon mal einen Gott zu Gesicht bekommen? Ich glaube kaum, daß Tarana sich so etwas überhaupt wünschte, selbst wenn dieser Wunsch eventuell erfüllt worden wäre.
Tarana blickte in das Lagerfeuer und zwinkerte nicht, bis ich von ihren Pupillenschlitzen nichts mehr erkennen konnte. „Ich werde mich um eine Vision bemühen, die uns leiten soll“, kündigte sie an.
Zwei Akoluthinnen traten vor und nahmen ihr die Reisekleidung ab, während eine dritte Taranas zeremonielles Gewand hervorholte. Fast hätte ich laut aufgestöhnt. Nun, da ich miterleben mußte, wie seltsam gut vorbereitet die Akoluthinnen diese Reise angetreten hatten, mußte ich erkennen, daß meine Argumente ungehört verhallt waren. Tarana benutzte meinen Widerspruch als Hintergrund für ihre unwiderrufbare Entscheidung
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