Im Schatten des Schloessli
Morton nichts zu tun hat – auch diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschliessen. Gunnar, wann kannst du mir sagen, ob der Kratzer an Mortons Hals von Sarasin stammt oder nicht?»
Norberg wechselte das Cold Pack von der rechten in die linke Hand und lockerte die frei gewordenen Finger. «Während du hier schnorrst, ist mein Team an der Sache dran. Hat es unter Sarasins Fingernägeln Hautfetzen, werde ich es bei deinem Tempo wissen, bevor wir hier fertig sind, und bis spätestens übermorgen liegt die Auswertung vor, ob es sich dabei um Mortons Haut handelt.»
«Gut.» Geigy war zufrieden.
Von draussen drangen Stimmengewirr und lautes Gelächter in den Bunker. Milchglasscheibenmattierte Schemen glitten an der Tür vorbei. Geigy wartete, bis der Lärm verklungen war. «Denkbar wäre auch, dass wir es mit einem Beziehungsdelikt im weiteren Sinn zu tun haben», sagte er endlich. «Was, wenn Morton etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen dürfen, und er deshalb sterben musste?»
«Warum nicht gleich ein Auftragsmord», giftete Norberg. «Vielleicht ist Morton ins Visier des organisierten Verbrechens geraten. Oder die Taliban waren hinter ihm her.»
«Gunnar, es reicht jetzt.» Geigy hieb die Faust auf den Tisch. «Kannst du dich nicht einmal, nur ein einziges Mal, zusammennehmen und konstruktiv mitarbeiten?»
«Herrgott, jetzt beruhigt euch. Gestern und heute gab’s echt schon genug Tote.»
Unold glaubte, sich verhört zu haben. So viel Verve hätte er der zierlichen Häuptlein gar nicht zugetraut.
«Schalt mal den Beamer ein, statt so machohaft zu grinsen», bekam auch Desnoyer sein Fett weg.
Während der Beamer warm lief, schloss Häuptlein den bereitstehenden Laptop an, startete die Textverarbeitung und schob das Gerät Unold zu. «Sie sind Linguist, Sie schreiben.»
«Wären Sie ein Kind, hätte ich nach dem Zauberwort gefragt», bemerkte Unold, nahm den Laptop jedoch gehorsam entgegen.
«Bitte – danke», sagte Häuptlein. «Und jetzt versuchen wir es anders. Was fällt euch spontan auf, wenn ihr an den Fall Chris Morton denkt?»
«Na also, geht doch.» Iris Häuptlein streckte sich ausgiebig.
Geigy räusperte sich. Seine Augen glitten über die Aufstellung an der erleuchteten Leinwand. «Ich fasse zusammen: Morton war Ausländer, für Schweizer Verhältnisse prominent, reich, ein Gewohnheitstier, in einer Branche tätig, die weltweit Hassobjekt Nummer eins ist, wurde mit einem biologisch weiblichen Körper geboren, was hier aber nur einem eingeschränkten Personenkreis bekannt war, und erhielt kurz vor seinem Tod anonyme Briefe von einem religiösen Fanatiker.»
«Entschuldige, dass ich dich unterbreche», sagte Nathalie Schnarrenberger, «aber ich kann einfach nicht glauben, dass Mortons Transsein für diesen Fall eine Rolle spielt; immerhin leben wir im 21. Jahrhundert.»
Norberg lachte bitter. «Leiterin Fahndung bei der Kapo West und noch immer so ein naives Gemüt. Liebe Nathalie, frag doch mal beim Verein ‹Transgender Network Switzerland› nach. Die können dir genügend Müsterchen für Gehässigkeiten und Diskriminierungen aller Art nennen.»
«Gunnar hat recht. Und solange wir nicht ausschliessen können, dass der Schreiber der anonymen Briefe und der Mörder von Chris Morton ein und dieselbe Person sind, ist Mortons sexuelle Identität durchaus von Bedeutung für unseren Fall.»
«Ja. Okay. Aber sind sie das wirklich? Ein und dieselbe Person, meine ich.»
Desnoyer stiess pfeifend die Luft aus. «Überleg mal: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann, der notabene erst seit wenigen Wochen in der Schweiz lebt, zur gleichen Zeit Opfer eines Schmierfinks und eines Gewaltverbrechers wird?»
«Und von ’nem tobenden Bankkunden.»
«Der Gedanke, dass zumindest zwei der drei Personen identisch sind, drängt sich tatsächlich auf», sagte Geigy. «Die Frage ist nur, welche der beiden: Sarasin und der Briefeschreiber, Sarasin und der Mörder oder der Briefeschreiber und der Mörder. Nathalie, du übernimmst die Überprüfung der einschlägigen Spinner; bis auf Johannes, um den kümmern Unold und ich uns. Wir schauen uns auch die ASH näher an. Nimm du mit deinen Leuten die ‹Deutsche Unternehmenssparkasse› unter die Lupe. Weiter brauchen wir auf jeden Fall Informationen zu Mortons Umfeld: Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz. Wie sah Mortons Tagesablauf aus? Wem begegnete er routinemässig? An welchen Orten hielt er sich auf? War er in einem Verein? Das Übliche
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