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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Kahi
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gekommen sind, war die aber nicht mehr da», sagte Unold bestimmt. «Schauen Sie auf den Tatortfotografien nach, wenn Sie mir nicht glauben.»
    «Merkwürdig», murmelte Geigy. «Damit dürfte die Handwerkerhypothese vom Tisch sein. Unold, Sie klären das beim Stadtbauamt ab. Zur Sicherheit.»
    Unold nickte. «Das wird mir genau dasselbe sagen. Ich glaube eh nicht an diese Ablenkungs-Hypothese. Mich erinnert die Szenerie viel mehr an einen Ritualmord. Vielleicht beging der Täter die Tat ja nicht wegen Morton, sondern wegen der Rituale. Vielleicht ist nicht entscheidend, wer umgebracht wurde, sondern wie. Was dem Toten nachher angetan wurde.»
    «Ein Ritualmord?» Geigy blickte skeptisch.
    «Genau. Oder ein Mord mit symbolischer Bedeutung. Was, wenn das mit dem Wasserrad eine symbolische Kreuzigung war und die eingeschnittenen Ohren die Wundmale Christi darstellen sollten?»
    Einen Augenblick war nichts zu hören als die Atemzüge der Anwesenden.
    «Eine symbolische Kreuzigung? Etwas gar weit hergeholt», unterbrach Geigy die Stille. «Hätte der Täter diese Analogie wirklich gewollt, warum hat er Morton dann nicht gleich auf die Holzstreben des Wasserrades genagelt oder ihn zumindest mit ausgebreiteten Armen daran festgebunden?»
    «Was weiss ich. Vielleicht, weil er dachte, das Wasserrad drehe sich. Oder vielleicht hat er das nötige Werkzeug dazu vergessen.»
    «Vergessen, das ist das Stichwort: Vergessen Sie’s, Unold, eine symbolische Kreuzigung ist definitiv zu abstrus. Und was die Wundmale Christi angeht, wissen Sie überhaupt, wo sich die befanden? An den Händen, den Füssen, der Lende, der Stirn und meinetwegen noch am Rücken. Aber ganz bestimmt nicht an den Ohren. Zudem würde ein Jesusfanatiker, der sein Opfer als widernatürlich und entartet bezeichnet, als Abschaum und Feind des Kreuzes Christi, und der als dessen Ende – wohlgemerkt als harmloseste Variante – das Verderben sieht, es bestimmt nicht symbolisch denselben Tod sterben lassen, den sein Idol gestorben ist.»
    «Sagten Sie vorhin nicht, wir müssten in alle Richtungen denken?»
    «In alle Richtungen denken heisst nicht, den gesunden Menschenverstand ausschalten.»
    «Wer kann schon sagen, was im Kopf eines Mörders vorgeht.»
    Häuptlein nickte zustimmend. «Habt ihr zudem schon mal was davon gehört, dass Menschen gespalten sind und sich oft ausgesprochen unlogisch oder inkonsistent verhalten?»
    «‹Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust›», ätzte Norberg den Faust nach.
    «Egal, was ihr sagt, nach dieser Demonstration von Gunnars literarischer Bildung gehe ich jetzt eine rauchen.» Entschieden stand Nathalie Schnarrenberger auf.
    «Einen Moment noch.» Geigy sah in die Runde. «Bisher haben wir immer von ‹Mann› und ‹dem Täter› gesprochen. Damit wir uns verstehen: Solange nicht geklärt ist, was gestern Abend beim ‹Schlössli› passiert ist, ist bezüglich Täterschaft alles offen: Mann, Frau, Einzeltäter, mehrere …» Der Rest des Satzes ging im Klingeln von Geigys Handy unter.
    * * *
    Schreibtisch, Wandschrank, zwei Stühle, Computer, Telefon, Notizblock, Stifte, eine Efeutute mit nahezu kahlen Ranken – in «Schöner wohnen» hätte es der Raum, der für die nächsten Wochen Patrick Unolds Büro sein sollte, kaum geschafft. Dabei schirmte das Fenster Abgase und Motorenlärm der Tellistrasse erstaunlich gut ab. Immerhin etwas. Der Rest war Unold mehr als egal. Er war Geigy einfach nur dankbar dafür, sich einige Minuten zurückziehen zu können. Allein. Selbst mit einem Kellerverschlag wäre er zufrieden gewesen, Hauptsache, es befand sich niemand ausser ihm darin.
    Er stützte sich erschöpft aufs Fensterbrett und sog so bewusst wie lange nicht mehr die Luft in seine Lungen. Durchatmen, mehr wollte er im Augenblick gar nicht. Zu mehr verleitete die Aussicht auch nicht. Ein Wunder, dass das Grau des Industriequartiers und die zahlreichen Autogaragen, die krötengleich eine neben der andern an der Strasse hockten, die Enge in seiner Brust nicht noch schürten.
    Ein dunkelgrünes Banner prangte am Maschendrahtzaun vor dem Polizeikommando: «Sichern Sie sich Ihren Platz in der ersten Mannschaft!»
    «Erste Mannschaft ist gut.» Mit einem Schlag waren die Bilder wieder da: Thomas Sarasin, dessen zerborstener Schädel, die Frau, das tote Kind. Unold würgte. Dankbar konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die Ausführungen des Rechtsmediziners, die wie alles, was er an diesem Tag gehört, gesehen, gerochen und

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