Im Schatten des Schloessli
eben. Iris und Liam, das ist euer Job. Und achtet auf das kleinste Anzeichen, ob Morton wegen seiner Geschlechtsumwandlung angefeindet worden ist. Noch Fragen dazu? Gut, dann fahre ich fort. Der Tatort ist exponiert, das Risiko, bei der Tat überrascht zu werden, entsprechend hoch. Der Täter dürfte insgesamt relativ schnell vorgegangen sein, allerdings braucht es doch seine Zeit, eine Leiche die Treppe vom Parkplatz zum Wasserrad hinaufzutragen und sie dort niederzulegen. Irgendwer muss doch in der Nähe gewesen sein und was gesehen haben.»
«Ja, das Liebespaar», nörgelte Norberg.
«Ausser dem Liebespaar. Gilles, du nimmst die beiden nochmals in die Mangel. Und vergiss ihre Handys nicht. Ich will alle Fotos haben, die sie vom Tatort oder der Umgebung gemacht haben. Und gib einen Aufruf an die Presse heraus. Es sollen sich alle bei uns melden, die am Tatabend etwas Aussergewöhnliches beobachtet oder sich zur Tatzeit in der Nähe des ‹Schlössli› aufgehalten haben. Ich hoffe, dass wir so zumindest ansatzweise herausfinden, ob der Täter, falls er gewollt hätte, auch ein anderes Opfer hätte wählen können oder ob er es ganz gezielt auf Morton abgesehen hatte. Wissen wir das, wissen wir zumindest, dass der Tat eine wie auch immer konfliktgeladene Täter-Opfer-Beziehung voranging.»
«Damit wissen wir wahnsinnig viel.» Norberg klang genervt.
«Jedenfalls mehr als jetzt», sagte Geigy müde. «Übrigens, Gilles, lass auch sämtliche Rotlichtüberwachungsanlagen, Geschwindigkeitsmessgeräte und Radaranlagen der näheren Umgebung überprüfen. Vielleicht haben wir ja Glück, und der Täter wurde beim Verlassen des Tatorts geblitzt. Kommen wir zum nächsten Punkt: Was hat der Täter getan, das er nicht unbedingt hätte tun müssen? Er legte sein Opfer auf das Wasserrad und schnitt ihm die Ohren ein. Warum? Wozu sollte das gut sein?»
«Wiedergutmachung oder Ablenkung.» Der Staatsanwalt tupfte sich mit einem Papiertuch den Schweiss von seiner Glatze. «Der Täter kannte sein Opfer und bereute die Tat. Lebendig machen konnte er Morton nicht mehr, also legte er ihn wenigstens einigermassen würdevoll hin.»
«Was ist würdevoll daran, jemandem die Ohren zu zerschneiden», sagte Häuptlein. «Überhaupt, ich hätte es ja noch verstanden, wenn der Täter den Tatort nachträglich inszeniert hätte, um einen Unfall vorzutäuschen. Aber Morton auf ein Wasserrad legen und ihm die Ohren zerfetzen – für mich sieht das eher nach einem Spleen aus als nach Wiedergutmachung. Oder nach dem Versuch, Morton die physische Individualität zu rauben.»
«Depersonalisierung?» Geigy knetete sein Kinn. «Möglich.»
«Müssten die Verletzungen dann nicht wesentlich ernster sein, sodass man Morton kaum mehr erkennt?»
«Unser Praktikant hat sich auf seinen Einsatz vorbereitet. Nur leider nicht gut genug. Nein, müssten sie nicht. Neben starken Zerstörungen im Gesichtsbereich finden sich durchaus auch subtilere Verhaltensweisen: den Toten auf den Bauch drehen zum Beispiel, damit man sein Gesicht nicht mehr sieht. Oder der Täter bedeckt das Gesicht seines Opfers mit einem Kleidungsstück.»
«Warum nicht Ablenkung? Vielleicht war das Ganze ja tatsächlich ein Unfall, und der Täter versuchte es wie einen Mord aussehen zu lassen.»
Norberg lachte. «Entschuldigung, Gilles, aber das ist Unsinn. Ich gebe zu: Falls der Täter den Tatort und die Leiche absichtlich verändert hat, um den Verdacht von etwas oder jemandem wegzulenken, dann ganz bestimmt nicht, um uns glauben zu machen, es handle sich um einen Unfall. Aber daraus zu schliessen, er wollte aus einem Unfall einen Mord machen … Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wenn Morton im Puff an einem Herzschlag gestorben wäre oder bei einer schiefgelaufenen Eigenstrangulation, dann vielleicht. Aber einen Unfall beim Joggen als Mord darstellen? Was gäbe es dazu für einen Grund?»
«’ne drohende Anklage wegen fahrlässiger Tötung zum Beispiel. Wär nicht das erste Mal, dass einer stolpert, weil ’n Handwerker seinen Dreckskram nicht richtig zusammengepackt hat.»
«Aber da waren keine Handwerker. Weit und breit nicht. Die Bauarbeiten am ‹Schlössli› beginnen erst in zwei Wochen», warf Unold ein.
«Doch, da waren welche.» Geigy blätterte in den Unterlagen. «Hier. ‹Der Zugang vom Parkplatz zur Treppe war durch eine rot-weisse Baustellenabschrankung abgesperrt›– das jedenfalls sagt unser Liebespärchen.»
«Als wir an den Tatort
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