Im Schatten des Schloessli
Schliesslich öffnete er die Tür. «Darf ich?»
«Tun Sie, was Sie nicht lassen können.» Falls Geigy überrascht war, Unold zu sehen, liess er es sich nicht anmerken. «Wollen Sie auch?» Er streckte Unold die längliche Flasche aus braunem Steinzeug entgegen.
«Nein danke. Und Sie sollten ebenfalls nicht …»
Geigy winkte ab. Er nahm einen kräftigen Schluck. «‹Trinke ihn mässig, aber regelmässig›», sagte er. «Haben Sie übrigens gewusst, dass jede Betonbuddel von diesem Gesöff handgemacht ist?»
«Ich weiss nicht mal, was das ist.»
«Ja gibt’s denn so was? Sie kennen Steinhäger nicht? Man kann von unseren Nachbarn im Norden denken, was man will, aber von Wacholderschnaps verstehen sie was.» Sorgfältig schraubte Geigy die Flasche wieder zu und legte sie in das rote Kunststofffach mit den «Eingangs-»Papieren auf seinem Schreibtisch. Danach ging er zum Lavabo, drehte den Kaltwasserhahn auf und spritzte sich das Wasser mit beiden Händen ins Gesicht. «Vielleicht sind Sie doch nicht so unbrauchbar, wie ich gedacht habe.»
«Und Ihre Frau ist eine Idiotin. Kommen Sie, gehen wir. Es gibt verdammt viel zu tun.»
«Chris Morton», sagte Geigy, als hätte er den Bunker nie verlassen. Er klaubte ein mintgrünes Papiertütchen aus der Hosentasche und steckte sich eine der extrastarken ovalen Pastillen in den Mund.
Norberg sass neben Häuptlein und hielt sich ein Cold Pack an den Unterkiefer. Links von Norberg kritzelte der Staatsanwalt Blümchen und Strichmännchen auf die zusammengefaltete «Aargauer Zeitung». Nasser, Desnoyer und Schnarrenberger nahmen den dreien gegenüber Platz. Unold hatte sich in grösstmöglicher Entfernung von Norberg ans untere Ende des Tisches verzogen.
«Lasst uns sehen, was wir haben.»
«Ein statisches Delikt, wie’s im Lehrbuch so schön heisst», sagte Nasser. «’ne Leiche und ’nen Tatort. Oder anders formuliert: ’nen toten Banker.»
Norberg verzog das Gesicht.
«Schon gut, schon gut, der war schlecht.» Nasser goss sich etwas Wasser aus der Glaskaraffe ein, die auf dem Tisch stand.
Geigy räusperte sich. «Mir ist tatsächlich nicht nach Witzemachen. Ich meinte die Frage so ernst wie nur was. Um den Täter zu finden, müssen wir wissen, wo wir ihn überhaupt suchen sollen. Und …»
«… dazu müssen wir uns zuerst fragen, womit wir es zu tun haben», beendete Häuptlein den Satz. «War es ein Unfall? Selbstmord? Totschlag? Oder eiskalter Mord?»
«Exakt», bestätigte Geigy. «Falls es ein Verbrechen war, was steckt dahinter: Hass? Rache? Geldgier? Eifersucht? Machtbedürfnis? Kontrolle? Oder eine Kombination davon? Vergessen wir nicht: Oft liegen einer Handlung mehrere Motive zugrunde.»
Nathalie Schnarrenberger beugte sich zu Unold hinüber. «Wenn Sie längere Zeit mit Bernhard zusammenarbeiten wollen, gewöhnen Sie sich besser an seine Einstiegsmonologe. Oder kaufen Sie sich einige Dosen Energiedrink.»
«Ich komme von der Uni. Gegen das akademische Erbrechen dort ist das hier das reinste Verbalviagra.»
«… Vergewaltigung zum Beispiel geht es in der Regel nicht nur um Sex, sondern um ein komplexes Zusammenspiel von Sex, Macht und Wut.»
«Was du nicht alles weisst! Beeindruckend», warf Norberg ein. «Wäre Morton vergewaltigt worden, würde uns das vielleicht sogar was nützen.»
«… ausschliessen», sprach Geigy unbeirrt weiter. «Die Art der Verletzungen – ich komme später darauf – sowie Fundort und Fundsituation der Leiche legen ein Verbrechen mehr als nahe. Und sollte dem so sein, haben wir es also mit einem Verbrechen zu tun, haben Opfer und Täter sich gekannt? Hatte sich Morton mit seinem Mörder verabredet? Oder ist er ihm zufällig begegnet, und es kam zu einem Streit, der eskalierte? Oder war Morton nichts als ein Zufallsopfer, das vom Täter spontan ausgesucht worden ist? War er somit schlicht und einfach zur falschen Zeit am falschen Ort?»
«Angesichts des Ergebnisses war er das auf jeden Fall, Zufallsopfer oder nicht», grummelte Norberg.
«… bei der Frage, ob wir es mit einem Raubmord zu tun haben.»
«Dagegen spricht die Tatsache, dass Morton in seiner Joggingkleidung unterwegs war. Da ist auf den ersten Blick zu sehen, dass nichts zu holen ist», warf Häuptlein ein. «Oder hatte er einen Rucksack oder was Ähnliches dabei?»
«Nichts dergleichen», gab Unold zurück. «Wenn seine Frau die Wahrheit gesagt hat, trug er nicht mal Hausschlüssel und Handy bei sich.»
«Was ist mit Uhr und Schmuck? Als
Weitere Kostenlose Bücher