Im Schatten des Schloessli
gefühlt hatte, rastlos durch seinen Schädel mäanderten.
«Der Körper des Toten weist zahlreiche Merkmale stumpfer Gewaltanwendung auf, wie sie für Stürze charakteristisch sind. Keine Hautunterblutungen an den Oberarmen – das Opfer wurde also nicht gewaltsam festgehalten. Die Quetschmarken auf dem Schienbein rühren eindeutig von einem Draht her.» Der Rechtsmediziner, der per Skype zugeschaltet worden war, hatte dies von der grossen Leinwand herab so unbeschwert verkündet, als verlese er die Wetterprognosen. «Sie sind typisch für jemanden, der ungebremst gegen einen Draht läuft. In meinen Augen lag die junge Kollegin, die den Totenschein ausgestellt hat, mit ihrer Stolperdrahthypothese also goldrichtig. Tut mir den Gefallen und vergrault mir die bloss nicht so schnell wie die anderen.
Das Schulterblatt des Toten ist zertrümmert. Dafür findet sich keine distale Radiusfraktur – also kein Bruch der Speiche nahe dem Handgelenk –, wie sie typischerweise durch einen Sturz auf das nach oben gestreckte Handgelenk entsteht. Das heisst, dass Chris Morton seinen Sturz nicht abzufangen versucht hat. Jeder andere in seiner Lage hätte das reflexartig getan; es sei denn, er wäre bereits während des Sturzes bewusstlos oder gar tot gewesen. Tja, was soll ich sagen? Morton war offenbar genau das, als er die Treppe hinuntergefallen ist: bewusstlos. Jedenfalls hat die Obduktion seines Schädels ein geplatztes Hirnaneurysma ergeben. Die Wunde am Hinterkopf hat sich Morton erst durch den Sturz respektive beim Aufprall zugezogen; das Aneurysma hingegen ist mit grosser Wahrscheinlichkeit geplatzt, noch bevor Morton am Fuss der Treppe aufgeschlagen ist – möglicherweise spontan durch den erhöhten Blutdruck während des Joggens. In der Folge ist es zu einer Hirnblutung gekommen, die zu einer Bewusstlosigkeit und schliesslich zum Tod geführt hat. Mit Auffangen war da natürlich nichts mehr.
Weiter findet sich an der Schläfe des Toten eine auffällige Quetschwunde. Sie wurde durch zwei Hammerschläge verursacht. Das hat die Virtopsie zweifelsfrei ergeben.»
An dieser Stelle hatte Geigy die Ausführungen des Leiters des Instituts für Rechtsmedizin unterbrochen. «Er meint die virtuelle Autopsie», hatte er, zu Unold gewandt, erklärt.
«Exakt. Lassen Sie mich Ihnen das Verfahren erläutern: Mit dem Virtobot, einem Oberflächenscanner, tasten wir die Leiche digital ab. Das Ergebnis ist ein 3-D-Modell des Körpers, auf dem auch noch die kleinste Oberflächenveränderung sicht- und vermessbar ist. Anschliessend untersuchen wir die Leiche mit einem Magnetresonanztomografen. Der MRT liefert uns 3-D-Bilder sämtlicher Körperschichten: Organe, Knochen, Blutgefässe, Muskeln. Das ganze Programm. Der Rechner kombiniert dann die Oberflächenbilder des Virtobots mit den Bildern des MRT und spuckt ein detailliertes 3-D-Modell des Toten aus. Ihr entschuldigt den Ausdruck, aber das Verfahren ist echt geil. Dank der Virtopsie kann ich euch jetzt genau definieren, nach was für einem Typ Hammer ihr suchen müsst. Anders ausgedrückt: Bringt mir den Hammer, und ich sage euch, ob damit zugeschlagen worden ist.
Was euch besonders interessieren dürfte, ist, dass die Hammerschläge zwar stark genug gewesen sind, um Mortons Kopfhaut aufplatzen zu lassen, aber zu schwach, um ihn zu töten. Ihr habt es also ganz bestimmt nicht mit einem Fall von Overkill zu tun. Statt mit exzessiver Gewalt scheint mir der Täter eher widerwillig vorgegangen zu sein. Nichts mit Panik oder Raserei.
Und noch etwas: Die Quetschwunde durch die beiden Hammerschläge hätte Morton theoretisch auch vor dem Sturz zugefügt worden sein können. Allerdings wäre er ganz bestimmt nicht einfach ruhig dagestanden und hätte sich zwei auf die Rübe geben lassen. Genau das aber hätte er tun müssen, damit der Täter ihn zweimal so deckungsgleich hätte treffen können, wie es der Fall gewesen ist.
Bleiben die Ohren. Alles deutet darauf hin, dass sie ganz am Schluss verstümmelt worden sind, als Morton bereits auf dem Wasserrad lag. Durch das Aneurysma war Morton praktisch sofort bewusstlos, und infolge der fortschreitenden Hirnschwellung und des rasch ansteigenden Hirndrucks trat der Individualtod schnell ein. Die Einblutungen ins Gewebe müssten deutlich stärker sein, wenn die Ohren unmittelbar nach dem Sturz eingeschnitten worden wären.»
Der Rechtsmediziner hatte geschlagene zehn Minuten weitergeredet, ohne dass Unold zu sagen gewusst hätte,
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