Im Schatten des Schloessli
so.»
Endlich schwieg das Gerät. Geigy hatte ein für alle Mal genug. Es platschte, der Steinhäger spritzte hoch auf, und das Smartphone versank in Geigys Drink. Einen kurzen Moment war das Display noch hell erleuchtet, dann hörte man ein Gurgeln, Olivias Name blitzte auf, und alles wurde schwarz.
«Olivia?» Geigy tauchte seine Finger in den Schnaps, stockte, zog sie wieder heraus und wischte sie an seiner Jeans trocken. Danach sass er einfach nur da. Stumm. Ohne sich zu rühren. Selbst sein Atem schien versiegt. Einzig seine Hände zitterten nach wie vor.
Eine gefühlte Ewigkeit später schlurfte er auf den Korridor hinaus. Das Glas mit dem untergetauchten Smartphone blieb, wie zu einem Stillleben arrangiert, auf seinem Schreibtisch zurück.
ZWEIUNDZWANZIG
«Im Aargäu sind zwöi Liebi. Es Maiteli und es Büebli. Die händ enandere gern, gern, gern. Die händ enandere gern.» Leise sang Jennifer Schnellbächler das Volkslied vor sich hin. Sie legte die Sitzungsakten in das rubinrote USM Sideboard und hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. Der Gesamtregierungsrat hatte die Diskussion des letzten Traktandenpunkts exakt mit dem Glockenschlag beendet. Die Nachmittagsbesprechung mit dem Vorsteher des Amtes für Migration und Integration war auf halb zwei angesetzt. Das Briefing ihres persönlichen Mitarbeiters begann um ein Uhr fünfzehn. Damit blieben ihr mehr als sechzig Minuten. Sechzig Minuten, in denen sie tun und lassen konnte, wozu sie Lust hatte – in dem einer Regierungsrätin gebührenden Rahmen, versteht sich.
Lange zu überlegen, wie sie die Zeit verbringen wollte, brauchte Jennifer Schnellbächler nicht. Schon als Kind war sie jede freie Minute im «Naturama» gehockt. Damals hiess das Naturmuseum noch «Aargauisches Museum für Natur- und Heimatkunde» und war vollgestopft mit einem Sammelsurium aus Wirbeltier- und Wirbellosenpräparaten, Insektenkästen, Herbarien, Fossilien, Mineralien und dergleichen mehr. Nicht dass sie die Anhäufung an morbiden Schaustücken gemocht hätte, doch sie fühlte sich eigentümlich angezogen davon. Teile der Ursammlung waren bis heute als «Kabinett der Vielfalt» im «Naturama» zu sehen. Und fast täglich musste sich die Regierungsrätin wohl oder übel zwischen den angestaubten Überresten längst vergangener Epochen hindurchschlängeln, wollte sie dorthin gelangen, wohin es sie zog, wann immer sie es sich einrichten konnte. Sechzig Minuten waren dafür zwar etwas knapp, doch sie reichten. Und obgleich die Zeit drängte, legte sie den Weg vom klassizistischen Regierungsgebäude am Aarauer Platz bis zum modernen Erweiterungsbau des Museums so ruhig und gemessen zurück, als gelten die Naturgesetze für sie nicht. Sie liess auch ihre beiden Rituale nicht aus. Sollten ihre Ratskollegen sie je dabei beobachten, wie sie den wasserspeienden Delphin des Regierungsgebäudebrunnens tätschelte oder wie sie den ausgestopften Spendengeier im Foyer des «Naturama» kraulte – sie hielten sie bestimmt für verrückt.
Verrückt aber war sie nicht. Bloss verliebt. Und unsicher. Wie würden ihre Kollegen im Regierungsrat reagieren, wenn sie zum Islam übertrat? Die Partei? Das Volk? Schon ihre Heirat mit Hassan hatte sie beinahe die Wiederwahl gekostet. Bedeutete die geplante Konversion nun das Aus ihrer politischen Karriere? Falls ja, würde sie damit umgehen können? Darüber wollte sie nachdenken. Und Klarheit finden.
Jennifer Schnellbächler nickte der Angestellten an der Kasse zu. Eintritt brauchte sie als Gönnerin des Museums keinen zu bezahlen. Sie wandte sich nach rechts und stieg die Treppe zum ersten Obergeschoss empor. Der Treppenabsatz zwischen den beiden Etagen war für sie eines der Highlights des Hauses: Vor schwarzem Hintergrund und von einer Glasscheibe geschützt hoben sich die Plakate der Sonderausstellungen, die das «Naturama» über die Jahre hinweg durchgeführt hatte, leuchtend ab. Sie konnte nie an ihnen vorbeigehen, ohne sanft den bläulich weissen Hai auf dem einen zu liebkosen und die grünen Konturen der um einen gelblich weissen Frauenarm gewickelten Schlange auf einem andern nachzuzeichnen.
Wie so oft zur Mittagszeit traf Jennifer Schnellbächler keine weiteren Besucher an. Es war schon fast unnatürlich still – bis auf das Plätschern des Aargauer Brunnens im Erdgeschoss. Wohl durch die Architektur des Gebäudes verstärkt, füllte es das ganze Treppenhaus. Sie zog diese wassergefüllte Stille den turbulenten
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