Im Schatten des Teebaums - Roman
ist doch ein ungünstiger Zeitpunkt für die Landwirtschaftsausstellung, oder?«
»Ganz im Gegenteil! Wenn es den Tiger wirklich gibt, wird es ihm bei so vielen Menschen hier vielleicht zu unruhig, und er macht sich aus dem Staub.«
Eliza kam ein beunruhigender Gedanke. »W as ist mit Nell? Wird sie nicht nervös, wenn hier so viele Züge verkehren?«
»T ja, falls die Lokomotive pfeift, werden wir Jocks Farm in Rekordzeit erreichen.«
Eliza verdrehte die Augen, aber vorsichtshalber legte sie ihre Arme fester um Tillys Taille.
Jock stand am Rand der Grube, die er ausgehoben hatte, und blickte gedankenverloren hinein, als Eliza und Tilly von ihrem Pferd stiegen. Vorsichtshalber wahrten sie Abstand.
Tilly runzelte die Stirn. »Er wird doch nicht den Tiger gefangen haben?«
»V ielleicht sollten wir lieber nicht näher herangehen«, sagte Eliza erschrocken.
Fliegenschwärme summten um die Fleischbrocken herum, die Jock als Köder ausgelegt hatte. Die Äste und Zweige, mit denen er die Grube abgedeckt hatte, waren beiseitegeschoben worden.
»Hallo, Jock«, rief Tilly. »W as ist denn in der Grube?«
»Seht selbst«, antwortete Jock mit ausdrucksloser Miene.
Die beiden Frauen wechselten einen Blick. Da sie Brodies Bemerkung, dass ein gefangenes Tier gewaltige Kräfte entwickeln konnte, nicht vergessen hatten, kamen sie vorsichtig näher und spähten misstrauisch in das Erdloch.
Im gleichen Moment lachte Tilly laut heraus. »Das ist aber ein seltsamer Tiger!«
»Kein Wunder«, knurrte Jock mürrisch. »Das ist Fred Camerons Hund.«
»Laddie!«, rief Tilly und beugte sich abermals über den Rand der Grube. Das Fell des Hundes – ein heller Schäferhund – war über und über mit feuchter Erde bedeckt, weil er versucht hatte, aus der Grube zu klettern und immer wieder hinuntergerutscht war.
»Ist er verletzt?«, fragte Tilly.
»Jedenfalls nicht so schlimm, dass er nicht in einem fort jaulen könnte, und das tut er seit heute Morgen um fünf, als ich gerade eingeschlafen war«, maulte Jock verdrossen. »Dieser Jäger, dieser Chandler, kam gegen Mitternacht vorbei. Zum Glück hab ich ihn heranreiten hören. Ausgerechnet auf meinem Land wollte er den Tiger suchen! Ich hab ihm gesagt, er soll verschwinden. Sonst läge vielleicht er jetzt da unten, mitsamt seinem Pferd!«
»Ja, er hat erzählt, dass er bei dir war«, sagte Tilly.
»Hat er Verdacht geschöpft? Es muss ihm doch seltsam vorgekommen sein, dass ich ihn nicht auf mein Land lassen wollte.«
Tilly nickte. »Misstrauisch ist er schon, aber ich hab ihm gesagt, du wärst ein streitsüchtiger alter Knochen«, erwiderte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
Jock schnitt eine Grimasse.
»W ie willst du Laddie da rauskriegen?«, fragte Tilly.
Jock kratzte sich am Hinterkopf. »Das hab ich mir auch gerade überlegt. Das Problem ist nämlich, dass ich es nicht allein schaffe.«
»Und wieso nicht?«
»Erstens kann der Hund mich nicht leiden. Er fletscht schon die Zähne und knurrt, wenn er mich nur sieht. Ich kann also nicht runter und ihm ein Seil umlegen, damit ich ihn raufziehen kann. Fred kann ich auch nicht zu Hilfe holen, sonst würde er wissen wollen, wozu ich die Grube ausgehoben habe. Er ist vielleicht keine große Leuchte, aber ich schätze, sogar er würde es früher oder später spitzkriegen.«
»Na schön, dann werden Eliza und ich dir eben helfen«, sagte Tilly. »Hast du eine Leiter?«
Jock verzog das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Am liebsten würde ich die Töle als Köder für den Tiger da drinlassen.«
Tilly funkelte ihn böse an. »Hol endlich die Leiter, und bring auch einen Strick mit. Ich werde runterklettern und Laddie festbinden. Ihr beide zieht ihn dann hoch, aber vorsichtig, verstanden?« Drohend hob sie den Zeigefinger in Jocks Richtung. »Anschließend solltest du die Grube lieber wieder zuschütten, Jock. Brodie Chandler hat uns gestern erklärt, warum es eine verrückte Idee ist, den Tiger lebend fangen zu wollen.«
»W undert mich nicht, dass er das für eine verrückte Idee hält«, knurrte Jock. »Er kriegt schließlich keine Prämie, wenn er die Bestie nicht erlegt. Ihr habt ihm hoffentlich nicht von meiner Falle erzählt …?«
»Natürlich nicht. Aber er sagte, dass ein gefangener Tiger in seiner Panik alles versuchen wird, wieder freizukommen, und dass er dann jeden angreift und tötet, der sich zufällig in der Nähe befindet. Wir haben die ganze Nacht vor Sorge um dich kein Auge zugetan«,
Weitere Kostenlose Bücher