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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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ist. Und er versteht die Sprache der Raben. Deshalb weiß er Dinge, die noch nicht geschehen sind. Wenn es Abend wird, schickt er uns Kinder abwechselnd mit einer Kanne Milch zu Huldas Stein. Morgens ist die Kanne immer leer.
    Es sei schlimmer, dem Elfenvolk auf die Zehen zu treten als normalen Menschen, sagt Papa, und auch viel gefährlicher, weil das Elfenvolk auf eine Weise Rache übe, die wir Menschen nicht kennen. Dann wird er nachdenklich, und die kleinen Augen blicken entrückt. Ich weiß, dass er etwas ungesagt lässt, müsste fragen, was es ist, schiebe es aber auf, weil ich die Antwort fürchte.
    Wenn Papa zu Hause ist, brauche ich niemanden sonst. Doch nicht für jeden hat er Zeit. Kristbjörg sagt, dass er die Leute auf dem Hof ungleich behandle und mich am allermeisten schätze.
    Letztes Jahr ist unser Winterknecht im Einmánuður, dem letzten Wintermonat, abgehauen. Da musste Papa öfter als sonst zu Hause bleiben und bekam schlechte Laune. Wenn Þórarinn ein Missgeschick passiert, vergisst Papa sich völlig, und Þórarinn hat sein Leben seinen flinken Füßen zu verdanken.
    Þórarinn ist ein ganzes Stück gewachsen, seit er zu uns gekommen ist. Ich glaube, er hat ein Auge auf meine Schwester Gauja geworfen. Als wenn das zu was führen würde. Sie, die ein Jahr älter ist als er und es niemals in Erwägung ziehen würde, jemand anderen als einen Gemeindevorsteher oder einen Bezirksratsvorsitzenden zu heiraten.
    Er weiß wenig über seinen Vater, der ertrunken ist, als er vier Jahre alt war. Seine Geschwister wurden hier und dort auf Höfen untergebracht, doch Þórarinn blieb bei Halldóra.
    Ich will all die hässlichen Dinge, die er über Papa sagt, nicht hören, weiß aber, dass einiges davon wahr ist. Es ist auch kaum zu vermeiden, Kristbjörgs Gemeckere zu hören. Sie sagt, dass einige seiner Tropfen so stark seien, dass sie Großvieh umbringen könnten. Wenn ich nachfrage, sieht sie mich bloß mit ihren geheimnisvollen Augen an, murmelt etwas von einer jungen Kuh und schweigt dann bedeutungsvoll. Schweigt immer, wenn ich mehr wissen will.
    Oft bin ich stinksauer auf Kristbjörg und würde ihr am liebsten einen Schubs verpassen. Dann beschließe ich, nie mehr auf das Geschwätz dieser dummen Alten zu hören. Bevor ich mich’s versehe, spitze ich aber doch wieder die Ohren. Vielleicht, weil ich mir so sehr den Kopf zerbreche und nie eine Antwort finde. Vielleicht, weil Mutter so schweigsam ist.
    Ninna und Gauja sagen, dass ich faul sei und träge und wohl nie unter die Haube kommen würde. Die Kühe sind abends viel eher zu Hause als ich, weil ich so lange auf dem Blumenhang sitze und vor mich hin träume. Und auf Elfen hoffe. Und beim Harken bin ich viel langsamer als meine Schwestern, die geschickter mit den Händen sind. Mein Blick schweift dann zur Sonne oder hinaus auf den Sander, und ich versuche, dieSegel eines französischen Schiffes zu entdecken. Aber meine Strümpfe sind am besten gestrickt. Das sagt Halldóra – und die versteht was vom Stricken.
    Es wäre schrecklich, nicht unter die Haube zu kommen. Eine Magd wie die alte Kristbjörg zu werden. Fluchend und zeternd dazusitzen, draußen am Fischstein, im Alter runzlig und krumm. Bei dem Gedanken bricht mir der Schweiß aus, und ich beeile mich mit der Hausarbeit. Früher oder später entwerfe ich trotzdem wieder Schnitte und Muster für einen Handschuh oder träume am Stórhügel vor mich hin, während ich darauf warte, dass ein Elfenmann auftaucht.
    Ich habe gehört, dass man in Reykjavík das Stricken lernen kann. Und dort gibt es feine Damen, die Harmonium spielen. Dieses Wort ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen, seit der Lehrer Guðmundur vor einigen Jahren hier war. Wenn ich es langsam genug sage und mir dabei Mühe gebe, schmeckt es wie Samtpudding mit Zimtzucker und Blaubeersaft darauf.
    Kristbjörg ist gebrechlich geworden. Als es ihr in der Winterskälte besonders schlecht ging, ließ Mutter sie allein in einem Bett schlafen und kümmerte sich um sie. Sie, die sonst alle zur Arbeit treibt. Kristbjörg durfte liegen bleiben und weiterschlafen. Als Papa darüber schimpfte, antwortete Mutter bloß: «Hat die alte Kristbjörg dafür nicht lange genug und gut auf diesem Hof gearbeitet? Wir werden uns nicht nachsagen lassen, dass sie das im Alter nicht genießen durfte.»
    Mürrisch schaute Papa in Richtung Kristbjörg, die die Decke bis ans Kinn zog, sich rekelte und langsam die Augen schloss. Doch Mutters Gesichtsausdruck

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